Viele Jahre lang wurde die Türkei als "Modell" und - TopicsExpress



          

Viele Jahre lang wurde die Türkei als "Modell" und "Wirtschaftswunderland" beschrieben. Und es tat sich ja auch wirklich einiges: Wirtschaftsleistung und Durchschnittseinkommen der Bürger vervielfachten sich, rechtsstaatliche und demokratische Reformen wurden besonders in den Jahren 2004 bis 2005 auf den Weg gebracht. Das Land wurde EU-Beitrittskandidat. Zwar gab es dabei seit etwa 2006 keine wahrnehmbaren Fortschritte mehr, aber auf der internationalen Bühne wurde die Türkei plötzlich ein zunehmend wichtiger Akteur, mit dem Willen zu entscheidendem Einfluss im gesamten Bereich des früheren osmanischen Reiches und darüber hinaus. Auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge hatte die Regierungspartei AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2011 daheim zum dritten Mal Parlamentswahlen gewonnen – mit dem bis dahin höchsten Ergebnis – und war im Nahen Osten der unbestrittene Held sowohl der arabischen "Straße" als auch der neuen Führungen, die aus dem "arabischen Frühling" hervorgegangen waren. Demokratisch, muslimisch, modern und wirtschaftlich erfolgreich wie die Türkei – das wollte man nun allerorts sein. Deutsche Welle Türkische Firmen fürchten um politische Stabilität Doch das Modellland rutscht derzeit in eine handfeste Krise. Seit drei Monaten weisen eine ganze Reihe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Indikatoren darauf hin, dass die positive Entwicklung an allen Fronten stagniert oder sich gar rapide ins Gegenteil verkehrt. Firmen verlieren ein Viertel ihres Wertes Vieles hat damit zu tun, dass der Boom der vergangenen Jahre nicht der AKP zu verdanken war, sondern der amerikanischen Notenbank. Billiges Geld strömte als Folge der "Stimulus"-Politik auch in die Schwellenländer, aber jetzt ist damit wohl bald Schluss. Damit ist auch der Boom, den diese Gelder nährten, zu Ende. Die Istanbuler Börse ist seit dem 22. Mai von etwa 93.000 auf 68.000 Punkte abgestürzt. Mit anderen Worten: Die börsennotierten Unternehmen haben mehr als ein Viertel ihres Wertes verloren. Der Kurs des US-Dollar, Anfang Mai noch bei 1,75 Türkische Lira (TL), stand Donnerstag bei 1,99 TL. Um sich dagegenzustemmen, hat die türkische Zentralbank bislang fast 13 Prozent ihrer Devisenreserven verbrannt, aber ohne Erfolg. Der verzweifelte Kampf gegen den Kursverfall hat auch parteipolitische Gründe. Die Akteure des kolossalen Baubooms der vergangenen Jahre sind Großunternehmen mit engen Verbindungen zur Regierungspartei. Oft waren es relative Neulinge am Markt, die dank ihrer politischen Verbindungen sehr rasch sehr stark wuchsen – finanziert durch billige Dollar-Anleihen. Aber ihr Geld verdienen sie in der nun verfallenden Landeswährung; die Dollaranleihen wiegen daher immer schwerer auf ihren Bilanzen. Da droht eine Blase zu platzen. Inlandsnachfrage steht still Die private Inlandsnachfrage, bislang Motor der türkischen Wirtschaft, ist weitgehend zum Stillstand gekommen. Wachstum gibt es zwar weiterhin, aber langsamer und vor allem dank staatlicher Ausgaben. Kein Wunder, dass die Haushalte nicht mehr konsumieren – der anfängliche Kaufrausch beruhte auf einer AKP-Politik leichter Privat-Kredite, die dazu führte, das viele Haushalte nun hoch verschuldet sind. Vor der AKP gab es private Schulden so gut wie nicht. Nun gilt es, die Schulden zurückzuzahlen. Aber die Einkommen, die zwar deutlich gewachsen sind, werden derzeit wieder von der steigenden Inflation aufgefressen – derzeit rund neun Prozent. Und all die schönen Dinge, die die Türken mit ihren Krediten kauften, waren oft importiert. Die Folge ist, dass die Türkei kollektiv mehr verbraucht, als sie produziert. Es ist interessant, die Werte von heute mit denen von 2011 zu vergleichen, als die AKP ihren historischen dritten Wahlsieg erzielte, mit gut 50 Prozent der Stimmen. Die Inflation lag damals nur zwischen vier und sechs Prozent. Und aus Umfragen des Gallup-Instituts wird sichtbar, dass die wirtschaftliche Zufriedenheit der Bevölkerung in jenem Jahr einen Höhepunkt erreichte. Heute aber ist davon nichts mehr zu spüren. Die wirtschaftliche Lage der Bürger hat sich nach deren eigener, subjektiver Einschätzung dramatisch verschlechtert. 2011 wertete Gallup die wirtschaftliche Lage von rund 20 Prozent der türkischen Bevölkerung als "notleidend". In diesem Jahr sind es 35 Prozent. Im Jahr 2011 galten 24 Prozent der Türken als "aufstrebend" und wohlsituiert – in diesem Jahr sind es nur noch 15 Prozent. In Städten ist echte Not ausgebrochen Ein näherer Blick zeigt, dass in den rasant wachsenden Städten echte Not ausgebrochen ist, eher als auf dem Land. In den Städten sind es in diesem Jahr 40 Prozent der Menschen, die als "notleidend" gelten. 2011 waren es nur 18 Prozent. Im Jahr 2011 fanden es 45 Prozent der Städter schwierig, mit ihrem Einkommen auszukommen. Jetzt sind es 59 Prozent. Die AKP müsste eigentlich genau wissen, dass ihre Beliebtheit auf ihren wirtschaftlichen Erfolgen beruhte. Insofern müssten nun eigentlich alle Alarmglocken schrillen: Die Protestbewegung gegen die Regierung seit Ende Mai scheint in einem engen Zusammenhang zu stehen mit dem Niedergang der wirtschaftlichen Lage der städtischen Bevölkerung. Insofern kann es nur verwundern, wenn die Regierung die Unzufriedenen als "Terroristen" und "Agenten dunkler Mächte" abkanzelt und polizeistaatliche Instrumente gegen sie in Stellung bringt. Das kann eigentlich nur einen anderen krisenhaften Trend verstärken: Die Türken verlieren massiv das Vertrauen in ihre staatlichen Institutionen. Im Jahr 2011 – so eine andere Gallup-Studie – sagten 60 Prozent der städtischen und 59 Prozent der ländlichen Bevölkerung, dass sie ihrer Regierung vertrauten. Jetzt sagen das nur noch 43 Prozent der Städter, aber 68 Prozent der Türken auf dem Land. Proteste als Folge schwerer Krise Das bedeutet: Die AKP ist dabei, die Städte zu verlieren, also das am schnellsten wachsende, dynamischste Segment der Gesellschaft. Dass die Regierung trotzdem recht haben mag, wenn sie sagt, dass die Mehrheit der Bevölkerung zu ihr steht, liegt am wachsenden Rückhalt bei den bildungsfernsten Schichten. Auch das Justizsystem büßt im Ansehen bei der Bevölkerung ein. Nur noch 49 Prozent der Städter trauen dem Rechtssystem (2011: 57 Prozent); auf dem Land sind es immerhin 66 Prozent (2011: ebenfalls 57 Prozent). Die Zahlen machen klar, dass die Protestbewegung gegen die AKP eine Folge einer schweren Krise in den Städten ist, geprägt von steigender Inflation, sinkendem verfügbarem Einkommen (bei jenen vielen Städtern, die sich privat verschuldet haben und damit den Boom der vergangenen Jahre produzierten) und potenziert durch die Reaktionen der Regierung, die diese Probleme nicht anspricht, sondern es vorzieht, die Proteste zu kriminalisieren und überall Schuldige statt Gründe zu suchen.
Posted on: Tue, 27 Aug 2013 01:11:56 +0000

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