Das unheimliche Haus und die alte Brandstifterin Als die - TopicsExpress



          

Das unheimliche Haus und die alte Brandstifterin Als die breite Schaufel auf eine harte Stelle im Boden des weiter hinten gelegenen Teils seines weitläufigen Gartens stieß, glaubte Herr Manfred Braumüller zuerst, es sei wieder ein Stein oder ein harter Lehmklumpen. Die vielen ausgerissenen Grasbüschel, die er schon vorher abgetragen hatte, lagen überall um ihn herum verstreut im Gelände. Braumüller hob vorsichtig die Schaufel hoch und lockeres Erdreich rieselte von ihr herunter. Er versuchte jetzt, das Hindernis zu umgraben, um es, wenn es ihm möglich war, irgendwie von der Stelle zu bewegen. Aber das Ding war länger und breiter als er ursprünglich angenommen hatte. Er kratze deshalb die Erde herunter und nach einiger Zeit kamen klobige, Russ geschwärzte Backsteine zum Vorschein. Waren das die Reste einer alten Mauer oder die eines alten Hausfundamentes? Manfred Braumüller blickte zu den anderen Häusern hinüber, die mit ihren kleinen Vorgärten paarweise an der breiten Siedlungsstraße standen. Die Flucht könnte stimmen, schätzte er grob, obwohl sein eigenes Grundstück ziemlich weit hinten lag, von hohen Bäumen umsäumt wurde und doppelt so groß war, wie das der anderen Hauseigentümer. Braumüller grub weiter, bis er eine stattliche Anzahl der lockeren Backsteine freigelegt hatte. Sie waren alle verkohlt, wie auch ein Teil der sie umgebenden Erde, die er ebenfalls weggescharrt hatte. Noch während er sich über seinen seltsamen Fund im Garten Gedanken machte, sah er Inge, seine Verlobte, wie sie gerade mit dem Kleinwagen von der Straße in die gepflasterte Einfahrt zur Garage einbog. Gleich, nachdem sie ausgestiegen war, winkte er ihr heftig mit der rechten Hand zu und rief mit lauter Stimme nach ihr. Manfred Braumüllers erste Frau war früh gestorben und Inge Brinkmann hatte er erst vor zwei Jahren während eines Skiurlaubs in den Alpen kennen und lieben gelernt. Seit der Zeit waren beide zusammen, kamen gut miteinander aus und einer baldigen Heirat schien offenbar nichts mehr im Wege zu stehen. Deshalb hatten sie sich auch gemeinsam dieses schöne Haus gekauft, das nur ein paar Kilometer von München entfernt in einem wunderschönen Dorf lag. Inge hatte es so gewollt, da sie aus diesem Ort stammte und nun in ihre Heimat wieder zurückgekehrt war. Sie liebte dieses Dorf sehr und mit Manfred hatte sie einen verständnisvollen Mann gefunden, der ebenso dachte, wie sie. Der Schatten des nächst gelegenen Nachbarhauses schob sich langsam wie in Zeitlupe über die grüne Rasenfläche vor, und das Licht der Sonne, gedämpft durch die vielen Zweige der umstehenden Bäume, flutete orangenfarben vom Himmel herab. Nach der Begrüßung zeigte Herr Braumüller seiner Verlobten die Stelle mit den exhumierten Backsteinen. „Inge, siehst du, was ich dort ausgegraben habe? Was könnte das deiner Meinung nach sein?“ „Sieht aus wie das Fundament eines Hauses oder die Überreste einer alten Mauer oder ähnliches. Wieso befindet sich so was in unserem Garten, Manfred?“ „Ich glaube ehr, dass es ein altes Fundament ist, Inge. Damals hat man viel mit solchen Backsteinen gebaut. Kann aber auch gut sein, dass hier vielleicht einmal ein zweites Haus stand, von dem man uns absichtlich nichts gesagt hat, weil man den Verkauf des Anwesens an uns seinerzeit nicht gefährden wollte.“ Inge Brinkmann verzog ihr Gesicht. „Man hätte es uns trotzdem sagen müssen, ganz gleich, was hier einmal gestanden hat. Wir sollten uns schleunigst mit dem Immobilienmakler in Verbindung setzen, um die Sache zu klären.“ Dann rieb sie sich nachdenklich die Stirn und schien ziemlich verärgert zu sein. „Ach was Inge, das ist nicht nötig. Ich kann das kleine Bäumchen auch woanders einpflanzen. Der Garten ist ja groß genug. Gehen wir jetzt lieber was essen. Ich habe alles schon vorbereitet. Um meine Arbeit im Garten kann ich mich auch später noch kümmern.“ Mauer hin oder her. Eigentlich war das im Augenblick nicht mehr so wichtig für Herrn Braumüller. Was zählte, war die Tatsache, dass seine Verlobte Inge etwas verärgert war, weil er wieder einmal den Problemen bewusst aus dem Weg gehen wollte. Um die Situation dennoch zu retten, wischte er ihr schnell ein paar Schmutzflecken von der beigefarbenen Jacke, um sie etwas abzulenken. Inge lächelte ein wenig, als sie bemerkte, dass ihr Verlobter sie umstimmen wollte. Das gefiel ihr und beide gingen ins Haus, wo in der Küche das gemeinsame Essen auf sie wartete. Sie schwatzten und scherzten während des ganzen Essens. Wenn es irgendwelche Probleme gab, pflegte Manfred immer mehr zu lachen als üblich. Dann entkorkte er eine Weinflasche und sah dabei zufällig zum Esszimmerfenster hinaus. Dicke Schatten drangen über das weite Grundstück, die einen seltsam bedrohlichen Eindruck auf ihn machten. Obwohl noch die Sonne schien, kam es ihm so vor, als wollte es Nacht werden. Schnell zog Braumüller die Vorhänge zu, um das Zimmer behaglicher zu machen. Als er sich gerade wieder umdrehen wollte, bemerkte er auf einmal einen Lichtschein draußen im Garten, genau an der Stelle, wo er die verkohlten Backsteine im Gartenboden gefunden hatte. Das Licht schien zu flackern. Vielleicht ein Nachbarskind, das im gegenüberliegenden Haus mit einer Taschenlampe spielt, war sein erster Gedanke. Gebannt starrte Herr Braumüller jetzt aus dem Fenster und hörte dabei nicht, wie seine Verlobte plötzlich hinter ihm stand und ihn die ganze Zeit etwas fragte. Manfred Braumüller blickte in das Gesicht seiner Verlobten, die ihn jetzt antwortheischend ansah. „Entschuldige Liebling, was hast du gesagt?“ „Ich habe dich gefragt, nach was du Ausschau hältst, Manfred.“ „Ach so. Ja, ich habe dort draußen im Garten ein Licht gesehen.“ „Licht?“ Inges Stimme hatte einen verblüfften, irritierten Ton. Sie trat ans Fenster und wollte hinaus sehen. „Ja dort.“ Ihr Verlobter zog den Vorhang wieder auseinander, aber da war nur das kleines Bäumchen, das neben dem aufgeworfenen Erdhügel einsam im Garten stand. Kein Licht war zu sehen. „Da ist nichts. Du hast dich bestimmt geirrt, Manfred.“ „Ich habe das Licht genau gesehen. Es würde mich nicht wundern, wenn eines der Nachbarskinder mit einer Taschenlampe herumgespielt und sie jetzt wieder ausgeschaltet hat.“ Forschend blickte Herr Braumüller trotzdem noch einmal in den Garten zurück, genau hinüber zu der Stelle, wo er die verkohlten Backsteine ausgebuddelt hatte. Es sah plötzlich so aus, als sei dort ein ganzes Fundament samt Mauer aus der Erde gewachsen, dunkel und vage. Braumüller zuckte zusammen. Ihm schauderte. Während er noch in den Garten starrte, unfähig den Blick abzuwenden, wurde in der düsteren Mauermasse ein fahler Fleck immer heller. Es war ein Fenster, etwa in der gleiche Höhe wie das Fenster seines ebenerdig gelegenen Esszimmers. Dahinter bewegte sich ein schwaches Licht so langsam wie das Glühen von Kohlen. Er konnte auf einmal in das Schlafzimmer eines Hauses sehen, wo eigentlich gar kein Haus sein konnte. Manfred Braumüller zwang sich dazu, den Blick abzuwenden, schaffte es aber nicht. Voller Entsetzten sah er, wie hinter dem Fenster eine Gestalt ganz allein auf dem Bett lag. Flammen züngelten an ihr hoch. „Was ist mit dir Manfred? Stimmt was nicht?“ „Und ob, Inge. Sieh rüber! Da steht ein Haus in unserem Garten und man kann direkt ins Schlafzimmerfenster sehen! Auf einem Bett liegt eine brennende Person. Siehst du sie denn nicht?“ Seine Verlobte bekam es mit der Angst zu tun, denn sie wurde gewahr, dass sie nichts sehen konnte. „Wo ist das Haus? Ich sehe nichts. Wovon sprichst du überhaupt?“ Herr Braumüller schloss die Augen, ehe er die Vorhänge hastig zuzog. „Ich glaube, ich sehe schon Gespenster, Inge“, sagte er zu ihr, ging rüber ins Wohnzimmer und goss sich noch ein Glas Wein ein. Draußen wurde es langsam dunkel. Die Nacht brach herein und zu vorgerückter Stunde gingen beide nach oben, um sich schlafen zu legen. Seine Verlobte lag bereits im Bett, als Manfred Braumüller das Schlafzimmer betrat. Ihre roten Lippen zitterten leise beim Schlafen. Vorsichtig schlich er sich noch einmal zum Schlafzimmerfenster hinüber, schob behutsam die zugezogenen Vorhänge weg, weil er von hier oben aus ebenfalls gut in den Garten einsehen konnte. Abermals zuckte er zusammen. Mit Schrecken erblickte Braumüller das dunkle Haus, wie es zu ihm herüber schaute. Das Fenster war jetzt hell erleuchtet. Obgleich es verschwommen oder wie durch Rauch verschleiert war, konnte er wieder in das Innere eines Zimmers blicken. Der Raum sah eng und schmal aus. Das unruhig glimmende Licht brachte die Wände ruckweise nach vorn. Das Zimmer machte auf ihn den Eindruck, als wäre es diesmal langgestreckt und leer. Was war das für eine Form? Während er gebannt hinübersah, gruben sich seine Fingernägel in die Stoffvorhänge. Stille hielt ihn umklammert. Die Form war nur ein Bett. Dann sah Manfred Braumüller diese Erscheinung, die sich wie eine alte Fotografie langsam entwickelte. Sollte er seine schlafende Verlobte wecken, ihr sagen, was er momentan sah? Er schaute zu ihr rüber, aber sie schlief tief und fest. Dann blickte Braumüller wieder runter in den Garten, aber das Haus war weg, einfach so, von einer Sekunde auf die andere. Nichts als die Schwärze der dunklen Nacht breitete sich vor seinen Augen aus. Bebend ließ er die Vorhänge zufallen, ging ins Bett und versuchte einzuschlafen. Es dauerte lange, bis ihm endlich die Augen zufielen. *** Am nächsten Morgen wachte Herr Braumüller ziemlich spät auf. Seine Verlobte Inge war bereits in die Arbeit gefahren und hatte ihm einen Einkaufszettel auf den Tisch gelegt, mit der Bitte, die aufgeschriebenen Dinge im nah gelegenen Einkaufsmarkt zu besorgen. Nach der Toilette frühstückte er ausgiebig und fuhr eine halbe Stunde später mit seinem Wagen runter zum großen Einkaufscenter, der direkt am Ortsrand lag und einen riesigen Parkplatz hatte. Drinnen traf Braumüller beim Einkaufen zufällig eine alte Dame, die nur zwei Häuser weiter von ihm weg wohnte. Er grüßte sie freundlich. Unter der streng gekämmten, grau beharrten Frisur blickten zwei abschätzige Augen hervor. Die blassen Lippen der alten Frau formten sich zu einem „Guten Morgen“. Es war fast so wie eine Abfuhr. Doch Braumüller war entschlossen, sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, ihr ein paar Fragen zu stellen. „Dürfte ich Sie etwas fragen, gnädige Frau?“ Sie machte eine kleine Pause und musterte ihr Gegenüber mit eisigem Blick. „Sie haben doch das Haus von den Richters gekauft, nicht wahr?“ sagte sie plötzlich mit krächzender Stimme. „Ja, vor etwa einem Jahr“, antwortete Braumüller ihr und fuhr fort: „Schade, dass wir uns bisher nur wenig begegnet sind. Ich wollte Sie eigentlich nur danach fragen, ob da, wo ich jetzt wohne, früher noch ein weiteres Haus gestanden hat und möglicherweise abgebrannt ist.“ „Auf Ihrem Grundstück meinen Sie?“ Die Worte der alten Frau kamen gepresst über ihre Lippen, als würde sie nicht gerne darüber reden wollen. Hinter ihrer formalen Art schienen sich Abneigung, vielleicht sogar Verachtung zu verbergen. „Ich glaube…, ja, da hat es einmal so etwas gegeben. Ein schreckliches Feuer.“ Der Einkaufwagen der alten Dame wendete sich, um wegzufahren. „Wie ist das passiert? Wer hat das Feuer gelegt?“ fragte Braumüller etwas zu eifrig. Er wollte unbedingt wissen, was passiert war. „Oh, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es wird wohl für immer ein schlimmes Geheimnis bleiben. Dort lebte aber früher in dem zweiten Haus eine Flüchtlingsfamilie mit zwei kleinen Mädchen. Keiner im Dorf wusste genau, woher sie gekommen waren. Wir hassten diese Menschen. Sie waren Fremde aus einer anderen Welt. Der Mann war ein Dieb. Er hat uns unsere Hühner gestohlen. Eines der Kinder hat man der Familie weggenommen, weil es angeblich nicht zu denen gehörte. Genau wusste man das aber nicht. Es war so ein kleines Mädchen mit blonden Locken. Aber bitte! – jetzt muss ich mich um meine Einkäufe kümmern. Ich habe noch einiges zu erledigen. Auf meine alten Tage bin ich lieber Zuhause, als unterwegs. Das verstehen Sie doch – oder?“ Sie war schon fast am Ende des letzten Ganges angelangt, als sie zurückrief: „Ja, es war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Haus wurde absichtlich in Brand gesteckt. Die ganze Familie ist elendig in den Flammen umgekommen. Auch das kleine Mädchen. Für mich waren das Zwillinge. Aber nur das andere hat überlebt, weil man es vorher irgendwo in ein Münchener Kinderheim gesteckt hat. Der Brandstifter konnte nie ermittelt werden. Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich den Täter kenne? Trotzdem habe ich bis heute geschwiegen und werde es auch weiterhin tun.“ Nach diesen geheimnisvollen Worten verschwand die alte Frau in jenem Gang, der zur Kasse führte. Braumüller schlug die andere Richtung ein, denn sein Einkaufswagen war noch leer. Wenn Inge nach Hause kommen würde, wollte er ihr davon erzählen, was ihm die Alte erzählt hatte. Als Herr Braumüller vom Einkaufen nach Hause kam, klingelte gerade das Telefon. Er hob den Hörer ab. Seine Verlobte Inge war dran und sagte ihm, dass sie wegen einiger zusätzlicher Besprechungstermine erst am nächsten Tag zurückkommen könne und die Nacht bei ihrer Freundin Susanne in der Stadt verbringen werde. Für Manfred Braumüller war das nichts ungewöhnliches, dass Inge hin und wieder bei ihrer Freundin übernachtete, wenn seine Verlobte mal wieder länger als gewöhnlich arbeiten musste. Der Weg von der Stadt bis in ihr Dorf war relativ weit und die Straßen stark befahren. Inge fuhr sowieso nicht gerne in der Nacht mit dem Auto. Sie vermied es immer, sofern es ihr möglich war. Der Tag schleppte sich für Braumüller so dahin. Er machte dies, er machte das und bald wurde es draußen wieder dunkel. Braumüller hätte die Vorhänge früher zuziehen wollen – aber dann konnte er ja nicht mehr sehen, was dahinter im Garten passieren würde, dachte er sich. Er ging ins Esszimmer und starrte aus dem Fenster. Das unheimliche Haus war da, natürlich. Es war ihm schon fast vertraut. Seine Fäuste zerknüllten den Vorhangstoff, als in dem dunstigen Fenster vor ihm ein schläfrig dumpfes Licht kroch. Irgend etwas lag auf dem vage sichtbaren Bett, das Braumüller letzte Nacht schon mal gesehen hatte. Langsam und schrittweise, so langsam, dass alles Zeitgefühl in ihm erlosch, begann er, die Umrisse deutlicher wahrzunehmen. Es war eine Gestalt, ausgestreckt und still, obgleich es so scheinen mochte, als ließe das unstete Licht die Bettdecke sich wie ein Kokon bewegen. Das Ding war völlig zugedeckt. War es vielleicht eine Leiche? Manfred Braumüller zitterte am ganzen Körper vor innerer Anspannung und Erregung. Das Böse jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Sein Verstand kämpfte gegen die Starre seiner kälter werdenden Glieder. Er versuchte, sich vom Fenster loszureißen, aber die Faszination hielt ihn an Ort und Stelle fest. Die Gestalt oder das Ding erschien für eine Leiche zu formlos. Sie erinnerte ihn an… Die Angst und der bodenlose Schrecken krampfte seinen Magen zusammen. Die Gestalt unter der Bettdecke sah aus wie…, wie Inge, seine Verlobte… Braumüller bewegte sich jetzt rückwärts vom Fenster weg. Unfähig zu denken ging er wie in Trance auf die Hintertür zu, die zum Garten führte. Wenn das Ding auf dem Bett vorgab, jemanden vorzugeben, wo war dann dieser Jemand jetzt in diesem Augenblick? Seine Verlobte war entweder noch in der Arbeit oder bei ihrer Freundin in der Stadt. Aber er hatte sie in dem anderen Haus gesehen, einsam in einem Bett liegend inmitten eines leeren Zimmers. Seine Panik ließ ihn nach draußen stolpern. Er taumelte auf das dunkle Haus in seinem Garten zu, das ihn wie magisch anzog. Minuten später erreichte er eine Eingangstür, die offen stand. Schweigend stieg er die Stufen hinauf und eine grauenhafte Stille umgab ihn. Es roch nach verbranntem Fleisch. Ein düsteres Licht waberte aus dem Zimmer, wo das Bett stand. Graue Wände schoben sich ihm entgegen. Mit schmerzhafter Langsamkeit, die seinen Atem in unregelmäßigen Stößen gehen ließ, schritt er auf das unheimliche Zimmer zu. Dann stand er vor dem Bett. Die Bettdecke war zurückgerollt und am Fußende zusammengeschoben. Etwas, was die Polsterung gewesen sein mochte, hing in losen Fetzen heraus. Darüber kroch ein erstickender, grauenhaft aussehender Nebel. Braumüller starrte stumpfsinnig im Zimmer herum und wurde von der Pein seiner Angst geschüttelt, als sich in dem Raum etwas bewegte. Ein undeutlicher Schatten flackerte über die verschwommene, blutrot gefärbte Wand. Ging dort jemand, den man nicht sehen konnte, hinüber zum Fenster, das er schon von seinem Haus aus gesehen hatte? Trockene Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Vielleicht war es nur das unstete Licht, vielleicht gab es überhaupt keinen Schatten, denn das Licht ließ es auch so aussehen, als bewegte sich das Polster vor ihm. Dann aber, als seine Lunge vergeblich nach Luft rang, sah er, dass sich der Gegenstand auf dem Bett tatsächlich bewegte. Er mühte sich, sich irgendwie aufzurichten. Die Fetzen der Polsterung mochten Glieder sein, oder sie versuchten zumindest, welche zu werden. Die Beulen und Verfärbungen hätten der Beginn des Zerrbildes eines Gesichts sein können. Braumüllers Verstand kämpfte darum, aus den Klauen des Albtraums zu entfliehen. War es seine Phantasie, die dieses Grauen zuließ? Er mühte sich darum, das Zimmer wieder zu verlassen. Er wollte sich vom der unförmigen Gestalt auf dem Bett abwenden, aber etwas hielt ihn fest und ließ ihn nicht weg. Plötzlich flog ein dunkler Schatten durch das Höllenzimmer und seine Urheberin tauchte am grauen Fenster auf. Ihr Gesicht war durch Gewalt und Terror aus der Form gerissen, so dass Braumüller einige Augenblicke brauchte, um erkennen zu können, dass es das Gesicht seiner Verlobten Inge war. Der schluchzende Schrei, der sich ihr entrang, klang wie das laute, verzweifelte Weinen eines kranken, fiebernden Kindes in Todesangst. Die grauenvolle Gestalt kam auf Braumüller zu, fiel aber plötzlich ein paar Meter vor ihm auf den Boden und kroch schließlich mit zerschundenen Händen weiter auf ihn zu. Verbrannte Hautfetzen fielen von ihr ab. Sie versuchte ihn an den Füßen zu greifen, kam aber nicht weiter, weil sie vom offenen Fenster angesogen wurde und schließlich mit einem fürchterlichen Aufschrei darin verschwand. Das Gesicht der schrecklichen Gestalt hatte sich im letzten Moment noch verändert, als es in den kreiselnden Höllenschlund stürzte. Braumüller kam es so vor, als hätte er für einen Augenblick die alte Frau aus dem Einkaufscenter wieder erkannt. Während er noch immer wie gelähmt da stand und versuchte, die Kontrolle über sich zurück zugewinnen, verschwand das Zimmer um ihn herum wieder, bis es sich schließlich ganz aufgelöst hatte. Erst als ihm bewusst wurde, dass er auf den verkohlten Backsteinen mitten im Garten lag und mehrere blaue Lichter gewahr wurde, die draußen vor der Einfahrt seiner Garage standen, wurde ihm klar, dass es sich um einen Krankenwagen und ein Polizeifahrzeug handelte. Dann erkannte er dahinter auch den Kleinwagen seiner Verlobten und wie Inge zusammen mit zwei Rettungssanitätern auf ihn zugelaufen kam, dicht gefolgt von zwei Polizeibeamten. Sie stand bald zitternd neben ihm und blickte ihn mit großen, fragenden Augen an. Dann sagte Inge zu ihm: „Was machst du denn für Sachen, Manfred? Du bist die ganze Nacht wie ein Schlafwandler draußen herumgelaufen. Du bist total unterkühlt und hättest sterben können. Wenn nicht jemand aus der Nachbarschaft bei der Polizei angerufen hätte, wärst du sicherlich schon längst tot. Du hast mir wirklich einen schönen Schrecken eingejagt. Wir bringen dich jetzt erst mal ins Krankenhaus. Dann sehen wir weiter.“ Die Rettungsmänner legten den zitternden Braumüller auf die Trage, schnürten ihn fest und brachten ihn rüber zum Sanka. Ein paar Frühaufsteher aus der Siedlung schauten zu, wie er abtransportiert wurde. Als er zurückblickte, lag sein Garten leer im morgendlichen Sonnenlicht. Nur das kleine Bäumchen und der verkohlte Backsteinhaufen davor waren dort zu sehen, der aussah wie der Hügel eines alten Grabes. Nach drei Tagen konnte Manfred Braumüller das hiesige Kreiskrankenhaus wieder verlassen. Seine Erholung schritt schneller voran als erwartet. Er wurde von seiner Verlobten Inge abgeholt, die vorher noch beim Friseur gewesen war, der ihr die langen blonden Haare in schöne Locken gelegt hatte. Erst unterwegs berichtete Sie ihm davon, dass man nur ein paar Stunden später, noch am gleichen Morgen seines eigenen Malheurs, eine alte Frau aus der Nachbarschaft in ihrem Garten tot aufgefunden hätte. Die näheren Umstände ihres Todes konnten bisher nicht aufgeklärt werden. Der Tod dieser alten Damen kommt vielen Bewohnern aus der Siedlung mehr als nur mysteriös vor. Nun ja, vielleicht hat sie Selbstmord begangen und ist wohl von ihrem Balkon im ersten Stock runter auf den harten Plattenboden gesprungen, wobei sie sich das Genick gebrochen hat. Der Nachbar, der sie fand, sagte, dass sie ein hölzernes Kreuz in ihrer steifen Hand fest umklammert hielt und an manchen Körperstellen übel verbrannt gewesen sein soll. Und da war noch so ein kleiner ominöser Zettel mit eilig aufgekritzelten Worten: „Ich bin eine Brandstifterin. Gott vergib mir!“ ENDE ©Heinz-Walter Hoetter
Posted on: Thu, 27 Jun 2013 21:38:51 +0000

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