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»[FAZ:] Die schleichende Musealisierung ist also das Gegenstück zur schleichenden Verarmung? [Agamben:] Man sieht doch deutlich, dass es gar nicht nur um wirtschaftliche Probleme geht, sondern um die Existenz von Europa als Ganzem - angefangen bei unserer Beziehung zur Vergangenheit. Der einzige Ort, in dem die Vergangenheit leben kann, ist die Gegenwart. Und wenn die Gegenwart die eigene Vergangenheit nicht mehr als lebendig empfindet, werden Universitäten und Museen problematisch. Ganz offensichtlich sind heute in Europa Kräfte am Werk, die unsere Identität manipulieren wollen, indem sie die Nabelschnur zerstören, die uns noch mit unserer Vergangenheit verbindet. Stattdessen sollen die Unterschiede eingeebnet werden. Europa kann aber nur unsere Zukunft sein, wenn wir uns klarmachen, dass es erst einmal unsere Vergangenheit bedeutet. Und diese Vergangenheit wird zunehmend liquidiert. [FAZ:] Die allgegenwärtige Krise ist also eine Ausdrucksform eines ganzen Herrschaftssystems und zielt auf unser Alltagsleben? [Agamben:] Der Begriff „Krise“ ist in der modernen Politik ja zur Tageslosung geworden und gehört längst in jedem Segment des Soziallebens zur Normalität. Im Wort selbst kommen zwei semantische Wurzeln zum Ausdruck: die medizinische im Krankheitsverlauf und die theologische des Jüngsten Gerichts. Beide Bedeutungen haben jedoch heute eine Transformation durchgemacht, die ihren Zeitbezug wegnimmt. „Krisis“ bedeutete in der antiken Medizin das Urteil, wenn der Arzt im entscheidenden Augenblick merkte, ob der Kranke überleben oder sterben würde. Im heutigen Verständnis von Krise ist daraus ein Dauerzustand geworden. So wird diese Unsicherheit in die Zukunft verlängert, bis ins Unendliche. Beim Jüngsten Gericht verhält es sich genauso; das Urteil war nicht zu trennen von der vollendeten Zeit. Heute jedoch wird das Urteil von der Idee eines Beschlusses abgetrennt und immer weiter aufgeschoben. So wird die Aussicht auf eine Entscheidung immer geringer, und die unendliche Entscheidung beschließt gar nichts mehr. [FAZ:] Die Krise der Schulden, der Staatsfinanzen, der Währung, der EU - das hört also niemals auf? [Agamben:] Heute ist die Krise zum Herrschaftsinstrument geworden. Sie dient dazu, politische und ökonomische Entscheidungen zu legitimieren, die faktisch die Bürger enteignen und ihnen jede Entscheidungsmöglichkeit nehmen. In Italien sieht man das deutlich. Hier hat man im Namen der Krise eine Regierung gebildet und Berlusconi wieder an die Macht gebracht, obwohl das grundlegend dem Willen der Wähler widerspricht. Diese Regierung ist ebenso illegitim wie die sogenannte europäische Verfassung. Die europäischen Bürger müssen sich klarmachen, dass diese unendliche Krise - genau wie der Ausnahmezustand - mit der Demokratie inkompatibel ist.«
Posted on: Thu, 06 Jun 2013 21:04:09 +0000

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