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FAZ Online Datensammlung und Spionage Das Entscheidungsproblem 26.07.2013 · Die NSA und die IT-Industrie haben es weit gebracht: Durch Datensammlung können sie rekonstruieren, was ein Mensch denkt. Damit verwirklichen sie das, wovon die Vordenker der Spionage immer träumten. Nur eines wissen sie tragischerweise nicht - was menschliche Intuition ist. Von George Dyson Artikel Bilder (6) Lesermeinungen (16) Der Mensch und die Suchmaschine © Simon Rüger Am 19. August 1960 fiel über dem nördlichen Pazifik, unweit von Hawaii, kurz nach 12 Uhr Ortszeit eine spülbeckengroße Metallkapsel vom Himmel und schwebte an einem Fallschirm zur Erde. Sie wurde von einem C-119-Transportflugzeug, einem „fliegenden Güterwagen“, in der Luft aufgefangen und umgehend zur Moffett Field Naval Air Station in Mountain View, Kalifornien, gebracht, wo heute die Privatjets von Google stehen. In der Kapsel befanden sich tausend Meter belichteter 70-mm-Film mit Aufnahmen von mehr als 4,2 Millionen Quadratkilometern Sowjetunion, deren Luftraum seinerzeit nicht überflogen werden durfte. (English Version) Diesem spektakulären Spionagecoup waren dreizehn misslungene Versuche vorausgegangen. Bei Geheimprogrammen werden natürlich auch Geldverschwendung und Misserfolge verheimlicht, doch in diesem Fall führte die Geheimhaltung zum Erfolg. Jeder vernünftige Politiker hätte das Corona-Ausspähprogramm nach dem elften oder zwölften Versuch abgebrochen. Heute landen hier die Privatjets von Google und Solarflugzeuge: die Moffett Field Naval Air Station in Mountain View © AFP Heute landen hier die Privatjets von Google und Solarflugzeuge: die Moffett Field Naval Air Station in Mountain View Corona, ein Unternehmen von CIA, NSA und Verteidigungsministerium, wurde von der Advanced Research Projects Agency (Arpa) koordiniert und unter strengster Geheimhaltung noch zwölf Jahre und für weitere 126 Missionen fortgeführt. Es war die ertragreichste Spionageoperation des Kalten Kriegs. „Es war, als wäre in einer dunklen Lagerhalle ein gleißendes Flutlicht eingeschaltet worden“, erklärte der ehemalige CIA-Programmdirektor Albert D. Wheelon, nachdem die Dokumente 1995 von Präsident Clinton freigegeben worden waren. „Die von Corona beschafften Daten spielten bald eine ebenso entscheidende Rolle wie die entschlüsselten Enigma-Funksprüche im Zweiten Weltkrieg.“ Die unbemerkte Überwachung Die Mitarbeiter des Corona-Programms, die zur Tarnung als Angestellte verschiedener in Sunnyvale und Umgebung ansässiger Unternehmen und Institutionen auftraten (Fairchild, Lockheed, Stanford Industrial Park und andere), trugen maßgeblich zum heutigen Silicon Valley bei. Google Earth ist ein direkter Nachkomme von Corona. Die Tatsache, dass jedermann überall auf der Welt ungehinderten Zugang zu Satellitenbildern hat, deren Existenz noch vor einer Generation ein streng gehütetes Geheimnis war, ist so erstaunlich wie der Fall der Berliner Mauer. Direkter Nachkomme des Corona-Programms: Google Earth - hier eine Ansicht von San Francisco, abgerufen auf einem iPad © dpa Direkter Nachkomme des Corona-Programms: Google Earth - hier eine Ansicht von San Francisco, abgerufen auf einem iPad „Prism“ operiert dagegen im Verborgenen. Unabhängig von der Frage, ob das pauschale, unspezifische Sammeln von Daten legal ist (was die Befürworter natürlich bejahen), wird das Programm damit begründet, dass Überwachung nur dann funktioniere, wenn die Schurken nicht wissen, dass sie überwacht werden. Die gefährlichsten Schurken sind aber dummerweise diejenigen, die schon ahnen, dass sie beobachtet werden. Wenn Verstand unbegrenzt verfügbar ist Es ist eine uralte Geschichte. Mit der Privatheit der eigenen vier Wände kamen die Lauscher. Mit dem Briefverkehr kam das heimliche Öffnen der Briefe. Mit der Erfindung des Telegraphen kam das Anzapfen von Leitungen. Mit der Erfindung der Fotografie kamen Geheimkameras. Mit den Weltraumraketen kamen Spionagesatelliten. Um das gesamte Internet auszuspionieren, braucht man ein eigenes Geheiminternet, und dank Edward Snowden wissen wir nun, wie es geht. Ultimatives Ziel von Überwachung und Analyse ist es, nicht nur herauszufinden, was gesagt und getan, sondern auch, was gedacht wird. Angesichts der Suchmaschinen, die den Einzelnen mit all den Wörtern, Bildern und Ideen verknüpfen, die sein Denken konstituieren, scheint dieses Ziel nunmehr in Reichweite zu sein. „Aber kann die Maschine wissen, was ich denke?“, fragen Sie. Die Maschine muss nicht wissen, was Sie denken - ebenso wenig, wie wir im Grunde nicht wissen können, was ein anderer Mensch denkt. Plausible Einschätzungen reichen völlig aus. Die Datensammelei, wie sie gegenwärtig von Google und der NSA betrieben wird, ist die Verwirklichung dessen, was Alan Turing 1939 im Zusammenhang mit seiner „Orakelmaschine“ überlegte: „wie weit es möglich ist, die Intuition zu eliminieren und nur mit dem Verstand zu arbeiten“. Er war schon von der Möglichkeit überzeugt, dass es künstliche Intelligenz gibt (er sprach von mechanischer Intelligenz), und fragte sich, ob Intuition sich auf ein mechanisches Verfahren reduzieren lasse - auch wenn dabei nichtdeterministische Schritte notwendig seien. Er schrieb: „Wir fragen nicht, wie viel Verstand erforderlich ist, und vermuten deshalb, dass er in unbegrenztem Umfang zur Verfügung steht.“ Mit einem Aufsatz ins digitale Zeitalter Turing, der mit seinen Arbeiten zur Entschlüsselung der Enigma-Funksprüche ein Schutzheiliger der NSA werden sollte, stellte übrigens schon damals fest, dass es nur auf die Metadaten ankomme - als wollte er den beschwichtigenden Hinweis der NSA, man sammele ja nur Metadaten, vom Tisch wischen. Wenn wir von Google etwas gelernt haben, dann dies: Man muss nur Links sammeln, dann wird man mit der Zeit Inhalte bestimmen, Ideen nachverfolgen und das Denken eines Menschen rekonstruieren können. Und von dort ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Vorhersage, was dieser Mensch in Zukunft denken wird. Schutzheiliger der NSA: der Mathematiker Alan Turing (1912 - 1954) © Archiv Schutzheiliger der NSA: der Mathematiker Alan Turing (1912 - 1954) Verspricht das nicht mehr Sicherheit auf der Welt, mehr Schutz vor Schurken, und zwar nicht nur vor solchen, die gefährliche Aktionen planen, sondern auch vor denen, die gefährliche Gedanken entwickeln? Ja, aber um welchen Preis!? Es gibt nämlich ein Problem, und das ist das Problem, das Turing beschäftigte, als er uns diesen Pfad eröffnete. Er, der damals vierundzwanzigjährige Student, führte uns in das digitale Zeitalter, freilich nicht, indem er einen Computer konstruierte, sondern, indem er einen mathematischen Aufsatz schrieb, der 1936 veröffentlicht wurde („On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem“). Warum nicht gleich die Ideen ausschalten? Das von dem Göttinger Mathematiker David Hilbert formulierte Entscheidungsproblem bezog sich auf die abstrakte mathematische Frage, ob es ein systematisches mechanisches Verfahren gibt, das in endlich vielen Schritten feststellt, ob eine gegebene Reihe von Symbolen eine gültige Aussage ist oder nicht. Die Antwort lautete: nein. In moderner Sprache ausgedrückt: Über wie viel digitale PS wir auch verfügen, es ist nicht möglich, systematisch vorherzusagen, was ein bestimmter Programmcode tun wird. Man kann ihn nur laufen lassen und zusehen, was am Ende dabei herauskommt. Bei Systemen, die so kompliziert sind, dass selbst simple Arithmetik dazugehört, kann ein Firewall, der alles Unbekannte durchlässt, niemals alle Gefahren abwehren. Was wir heute haben, entspricht, verglichen mit dem späteren Panoptikum, dem Verfahren von 1960, als herabschwebende Filme aufgefangen wurden. Die Vereinigten Staaten haben ein Koordinatensystem errichtet, das verdächtige Personen - natürlich nur Ausländer, aber diese Definition ist bisweilen etwas verschwommen - mit gefährlichen Gedanken verknüpft. Und wenn die Links und die Verdachtsmomente stark genug sind, werden unsere Drohnen in Marsch gesetzt. Das ist nur ein einfacher erster Schritt hin zu etwas ganz anderem. Warum potentiell gefährliche Personen (und die unvermeidlichen unschuldigen Zivilisten dazu) töten, wenn es technisch bald möglich sein wird, die gefährlichen Ideen selbst auszuschalten? Geregelt und überprüft von einem ordentlichen Gericht Es gibt ein Problem - und das ist wiederum das Entscheidungsproblem. Es wird nie restlos möglich sein, systematisch zwischen wirklich gefährlichen Gedanken und guten, aber verdächtig erscheinenden Gedanken zu unterscheiden, wenn man ihnen keine Chance lässt. Jedes System, das ermächtigt wird (oder sich die Macht nimmt), sich vor gefährlichen Gedanken zu schützen, wird sich notwendigerweise auch vor originellen und ungewöhnlichen Gedanken schützen. Für den Einzelnen und für die Gesellschaft ist das ein Verlust. Es ist das fatale Manko des idealen Sicherheitsstaates. Als die Schaffung des Ministeriums für Heimatschutz bekanntgegeben wurde, meinte Marvin Minsky, einer von Turings prominentesten Schülern, dass wir ein Ministerium für Heimatarithmetik brauchten. Er hatte recht. Das klingt deprimierend. Was sollen wir tun? Alle Computer ausschalten? Nein, wir müssen nur auf Geheimhaltung verzichten und die Datensammelei in aller Offenheit betreiben, wie es sich gehört. Normale Bürger können zwischen regulärer Polizei und Geheimpolizei unterscheiden, man sollte ihnen die Entscheidung zutrauen. Nehmen wir nur den Einsatz von Überwachungskameras, beispielsweise in Großbritannien. Diese Kameras sind flächendeckend sichtbar und werden offen von der Polizei genutzt, und zwar nach Vorschriften, die von einem ordentlichen Gericht definiert wurden. Genauso mögen vernünftige Menschen sehr wohl für die Einrichtung eines globalen Internetzwischenspeichers zu Sicherheitszwecken sein, wenn der Zugang zum Speicher von einem ordentlichen Gericht geregelt und überprüft wird. Schlachten, die nicht zu gewinnen sind Illegale Spionage wird es immer geben, aber sie sollte sich in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Wenn bei der Durchführung von „Prism“ gegen Gesetze verstoßen wird, ist das beunruhigend; wenn aber nicht gegen Gesetze verstoßen werden musste, ist das noch schlimmer. Dank Edward Snowden ist das an die Öffentlichkeit gelangt. Und der Weg von Corona über Silicon Valley zu Google Earth macht deutlich, dass ein Geheimprogramm im allgemeinen Interesse öffentlich gemacht werden kann, ohne dass es deswegen eingestellt werden müsste. Das ist viel wichtiger als die Diskussion über den Vorrang von nationaler Sicherheit gegenüber dem Vierten Verfassungszusatz oder all die anderen Debatten, die Snowden mit seinen Enthüllungen angestoßen hat. Wir stehen, wie Turing schon erkannte, vor der grundsätzlichen Entscheidung, ob menschliche Intelligenz oder künstliche Intelligenz Vorrang genießen soll. Die NSA verteidigt ihre Datenschnüffelei mit dem Argument, dass die Daten und Metadaten nicht von Menschen gelesen werden, sondern von Maschinen und daher, im juristischem Sinn, auch nicht gelesen werden. Das allein ist besorgniserregend. Und was ist mit Cyberterrorismus und Cyberkrieg? Wir sollten entschlossen (und notfalls einseitig) auf die Militarisierung von Programmcodes und die Entwicklung autonomer Waffen verzichten - zwei unterschiedliche Ansätze mit dem gleichen Ergebnis. Beide führen uns in Schlachten, die nicht zu gewinnen sind. Ein gutes Beispiel ist die Verwendung von biologischen und chemischen Waffen - sie sind frei verfügbar, aber wir haben einen nahezu weltweiten Konsens erreicht, den Giftgashorror des Ersten Weltkriegs nie mehr zu praktizieren. Müssen wir den Fehler wiederholen? Zurzeit bewegen wir uns genau in die falsche Richtung. Wir forcieren die Entwicklung geheimer (und teurer) Angriffswaffen, statt ein offenes System einer kostengünstigen zivilen Verteidigung zu entwickeln. Wie der militärisch-industrielle Komplex funktioniert Vor vierzehn Jahren verbrachte ich in La Jolla einen Nachmittag mit Herbert York, dem amerikanischen Physiker mit indianischen Wurzeln, der Eisenhowers Berater und einer der klügsten und effizientesten Administratoren des Kalten Krieges war. York wurde zum wissenschaftlichen Direktor von Arpa ernannt und war maßgeblich an der Entwicklung der Wasserstoffbombe beteiligt, die binnen weniger Jahre dank einer funktionierenden Flotte von Interkontinentalraketen einsatzfähig war. Er war so nüchtern, dass man ihm das thermonukleare Arsenal anvertraute, und zugleich so entspannt, dass er am 6. Juli 1961 in aller Frühe geweckt werden musste, weil er aus Versehen mit einem fremden Auto nach Hause gefahren war. Sprach in seiner berühmten Abschiedsrede von einer Vierermatrix: der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower © AP Sprach in seiner berühmten Abschiedsrede von einer Vierermatrix: der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower York hat besser als alle anderen verstanden, wie der militärisch-industrielle Komplex funktionierte. „Eisenhowers Abschiedsrede ist berühmt“, erklärte er mir beim Mittagessen. „Jeder erinnert sich an die eine Hälfte, wo es heißt: Passt auf den militärisch-industriellen Komplex auf. Aber die Leute erinnern sich nur an ein Viertel davon. Tatsächlich hat Eisenhower gesagt, dass wir einen militärisch-industriellen Komplex brauchen, genau deswegen aber wachsam sein müssen. Das ist die eine Hälfte. Die andere Hälfte lautet: Wir brauchen eine wissenschaftlich-technische Elite. Aber eben weil wir eine wissenschaftlich-technische Elite brauchen, müssen wir wachsam sein. Das sind die vier Teile des Ganzen - militärisch-industrieller Komplex, wissenschaftlich-technische Elite; wir brauchen das eine, und wir brauchen das andere, müssen aber beide Male wachsam sein. Es ist eine Vierermatrix.“ Inzwischen stecken wir schon viel tiefer in einer viel komplizierteren Matrix. Und mehr denn je sollten wir Eisenhowers Rat beherzigen. Ja, wir brauchen Big Data und Algorithmen - aber wir müssen wachsam sein. Der Wissenschafts- und Technikhistoriker George Dyson, 1953 in Ithaca, New York, geboren, veröffentlichte 2002 ein Buch über das Orion-Projekt (“Project Orion: The Atomic Spaceship 1957-1965“), für das sein Vater, der Physiker Freeman Dyson, seinerzeit ein atomgetriebenes Raumschiff entwickelt hatte. Das Material, das der Sohn dafür verarbeitete, machte die NSA so neugierig, dass sie ihm Tausende Seiten davon in Kopie abkaufte. Als junger Mensch lebte er eine Zeitlang in einem Baumhaus. Heute ist er als Berater und Philosoph im Bereich digitaler Technologien tätig; zuletzt erschien von ihm „Turing’s Cathedral: The Origins of the Digital Universe“ (2012). © edge.org Der Wissenschafts- und Technikhistoriker George Dyson, 1953 in Ithaca, New York, geboren, veröffentlichte 2002 ein Buch über das Orion-Projekt (“Project Orion: The Atomic Spaceship 1957-1965“), für das sein Vater, der Physiker Freeman Dyson, seinerzeit ein atomgetriebenes Raumschiff entwickelt hatte. Das Material, das der Sohn dafür verarbeitete, machte die NSA so neugierig, dass sie ihm Tausende Seiten davon in Kopie abkaufte. Als junger Mensch lebte er eine Zeitlang in einem Baumhaus. Heute ist er als Berater und Philosoph im Bereich digitaler Technologien tätig; zuletzt erschien von ihm „Turing’s Cathedral: The Origins of the Digital Universe“ (2012). Weitere Artikel
Posted on: Fri, 26 Jul 2013 12:54:58 +0000

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