Geschwind auf der Flucht Von Nikolaus Huhn o, schleunigst noch - TopicsExpress



          

Geschwind auf der Flucht Von Nikolaus Huhn o, schleunigst noch den Text über die Entschleunigung schreiben und dann ... Moment, worum geht es hier eigentlich? Komm mal auf den Boden, fahr mal runter, schalt mal einen Gang zurück. Ent – schleu – ni – gung. Im vergangenen Frühjahr habe ich mir mal die Mühe und das Vergnügen der Entschleunigung gemacht. Für zwei Monate verabschiedete ich mich von meiner eigenen Firma und meiner Familie, um durch alle Kreise und Städte Thüringens zu laufen und Menschen zuzuhören. Wissen Sie, was mich dabei am meisten verblüfft hat? Erstens: Man sieht und erfährt dreimal mehr beim Laufen als beim Radfahren. Und zweitens: Thüringen wurde mir durch das Laufen groß. Größer als ich bis dahin ahnte. Und was es da alles gibt in unserer Gegend ! Acht Wochen war ich zu Fuß unterwegs und immer noch in Thüringen. Wer entschleunigt, steht gegen die Strömung. Vieles um uns beschleunigt. Die Arbeit mit den elektronischen Medien und allerlei Hilfsmitteln zur Steigerung von Effizienz, Produktivität und Geschwindigkeit. Der atemberaubende Wechsel der Moden. Der Druck zu maximalem Glück und Spaß. Der Straßenverkehr. Der rasende Bildschnitt in modernen Filmen. Alles auf der Überholspur. Man muss gar nicht unbedingt stehen bleiben, um zu entschleunigen. Selbst wer sich an eine Geschwindigkeitsbeschränkung hält, gilt als unsportliche Spaßbremse. Vermutlich gelten Behutsame auch unter Lemmingen als Spielverderber. Es ist müßig, die Faszination der Geschwindigkeit zu leugnen. Der Sportler oder Radfahrer darf sich sogar darauf freuen, dass er bei seinem Geschwindigkeitsrausch, aufgrund seiner körperlichen Leistung, tatsächlich Glückshormone ausgeschüttet bekommt. Dem sitzenden Autofahrer scheint dieses hormonelle Glück, Untersuchungen zufolge, nicht gewährt zu sein. Aber ja, keine Frage: Geschwindigkeit schmeckt nach Souveränität. Sie kann uns von der klebenden Scholle lösen, unseren Blick weiten, Provinzialität abstreifen. Das bewahrt uns jedoch nicht zwangsläufig davor, unsere Provinzialität, oder nennen wir’s mal unseren kulturellen Narzissmus, im Handgepäck des Fliegers zu verstauen und an jedem Ort der Welt aufzublasen wie eine Luftmatratze. Die legendäre Scham, die Deutsche im Ausland füreinander empfinden, lässt das vermuten. Das Faszinierende an Geschwindigkeit ist, dass man einen anderen Ort so schnell erreichen kann. Wir übersehen aber leicht, dass wir unseren momentanen Aufenthaltsort dabei auch sehr schnell hinter uns lassen. Wollen wir das? Quietschende Reifen beim Kavaliersstart riechen immer auch ein bisschen nach Flucht. So erstrebenswert das Ziel auch sein mag, das wir ansteuern. Wir führen derzeit – im menschheitsgeschichtlichen Vergleich – einen ziemlich erfolgreichen Kampf gegen den Raum. Er unterliegt uns, wenn wir innerhalb von acht Stunden Boston oder Ouagadougou anfliegen können. Er hat verloren, wenn wir täglich locker fünfzig Kilometer zur Arbeit und wieder zurück fahren können, ohne das dafür ausgegebene Geld oder die verwendete Zeit übermäßig zu bedauern. Der Raum wird gründlich besiegt, wenn wir von einem Bildschirm aus unbemannte Kriege in anderen Erdteilen abwickeln können. Wir schreddern Entfernung wie ein Aktenvernichter. Und schon droht der begeisterte Ausruf „Wie klein die Welt doch geworden ist !“ umzukippen in den entsetzten Ausruf „Wie klein die Welt doch geworden ist !“. Erste Ausflugsdampfer für touristische Spritztouren in den Weltraum liegen bereits tuckernd am Pier. Der Raum, in dem wir da stochern, scheint jedoch eine andere Liga zu sein. Endlich unendlich und angeblich ein bisschen krumm. Noch bevor wir den Weltraum in die Knie zwingen, meldet sich jedoch die Stimme des Spielverderbers aus dem Harz: Der Raumwiderstand wird zunehmen, behauptet Wolfgang Blendinger aus Clausthal-Zellerfeld. Dabei spricht er weniger von intergalaktischen Zusammenhängen und Masseverlusten bei Lichtgeschwindigkeit, sondern von der Verknappung und Verteuerung der Hilfsmittel, die uns beim Kampf gegen den Raum so vorteilhaft unterstützen: Erdöl, Erdgas, Strom. Wenn Mobilität teurer wird, erobert sich unser Lebensraum schrittweise seine Größe wieder zurück. Der wieder wachsende Raum entschleunigt uns dann schon von selbst. Wenn die Bahnfahrkarte oder der Liter Diesel das Doppelte kosten, steigt der Widerstand gegen unsere leichthändige Überwindung des Raums. Ist es wirklich ein Verlust, wenn ein Wohlhabender daran erkannt wird, dass er in den Vogesen Urlaub machen kann, anstatt auf einer Südsee-Insel? Entscheidend in diesem Gesellschaftsspiel scheint doch weniger zu sein, ob man absolut reich ist. Was ist schon absolut reich? Sondern eher, dass man relativ reicher ist als die Familien, die es mit ihrem Budget nur bis zum Baggersee oder auf den nahe gelegenen Campingplatz schaffen. Wenn uns der zunehmende Raumwiderstand mehr und mehr auf die Region verweist und Weit-Fort-Fahren ein seltener Luxus wird, werden wir merken, ob wir gern in uns und bei uns zu Hause sind oder ob der Massentrieb in die Ferne nicht vielleicht doch eine Flucht vor unserem wenig selbstgeführten Lebensentwurf ist. In Nordhausen begegnete mir auf dem Fußmarsch an einer inzwischen etwas abgetakelten Fortbildungsstätte der Slogan „Wissen, was die Industrie will“. Es ist sicher schön und mag manchmal auch lukrativ sein, das zu wissen. Allerdings nur, wenn nicht völlig in Vergessenheit gerät, was wir selbst wollen und brauchen. Wie aber – zeitweise – aussteigen aus dem Hamsterrad? Wem die vom Arbeitgeber zugewiesene Urlaubsportion zu karg ist für ein großes Projekt, der kann mal überlegen, wann es im Betrieb Leerlauf- oder Schwachlastzeiten für unbezahlten Urlaub gibt. Vielleicht ist der Chef froh, mal zwei, drei Monate einen Mitarbeiter weniger auf der Lohnliste zu haben. Wer selbstständig ist, kann versuchen, sich freizuschaufeln. Oder nicht mehr jedem Auftrag nachjagen, um Freiraum zu gewinnen und mal einen Gang runterzuschalten. Wenn Zeit angeblich Geld ist, kann Geldverlust Zeitgewinn bedeuten. Das ist doch mal was in einem endlichen Leben. Totale materielle Absicherung und totale Freiheit scheinen einander zu widersprechen. Aber der Schieberegler zwischen diesen beiden Polen hat mehr Spiel, als mancher meint. Einige Tage nach meinem Fußmarsch habe ich eine Baustelle hinter Saalfeld, etwa siebzig Kilometer von meiner Firma entfernt. Mit dem gemieteten Transporter fuhr ich die drei Tagesmärsche in einer knappen Stunde. Und plötzlich ist die Heimat wieder so klein und scheinbar unscheinbar, wie wir alle sie kennen. Aber ich erinnere mich noch gut, wie groß sie scheinen kann. Geben wir diese Größe, die durch Langsamkeit entsteht, eigentlich – in aller Eile – freiwillig preis? Gelesen in: Freies Wort, 24.08.2013
Posted on: Mon, 02 Sep 2013 14:47:53 +0000

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