Neues um Nora... Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Merle kam nach Haus. Nora warf einen Blick auf die Uhr. Halb zehn durch, so spät, dachte sie. Morgen früh würde sie wieder Schwierigkeiten haben, Merle aus dem Bett zu bekommen. Nora konnte die Schritte ihrer zarten Füße draußen auf dem Flur hören. Ihre Schwester war klein für ihr Alter und wirkte zerbrechlich wie Glas. Oft war sie weinend heimgekommen, weil ihre Klassenkameraden sie wieder einmal als Spielball benutzt hatten. Vater hatte sie dann immer tröstend in den Arm genommen und davon überzeugt, dass es nicht gut war, ihre Gabe zu missbrauchen, um es ihnen heimzuzahlen. Er hatte stets darauf geachtet, dass niemand um ihre Fähigkeiten wusste. Viel zu groß war seine Angst, was dies sonst nach sich ziehen konnte, denn er wusste es aus eigener Erfahrung nur zu gut. Schließlich hatte er es als Kind selbst erlebt. Nun war Vater nicht mehr da. Anfangs wehrte sich Merle nur, doch schnell entdeckte sie die Möglichkeiten, die darin lagen, in den Geist anderer einzudringen, ihre Gedanken zu lesen und vor allem darin, diese zu manipulieren. Nora klappte ihr Heft zu und packte ihre Schulsachen für den nächsten Tag. Dann sah sie noch einmal nach Andreas. Er war inzwischen eingeschlafen. Vermutlich hatte er sich wieder in den Schlaf geweint. Vaters Musik spielte immer noch. Sie ging zum Nachttisch und holte seinen Teller. Wieder hatte er kaum etwas angerührt. Mit einem traurigen Blick auf ihren kleinen Bruder verließ sie das Zimmer. Sie machte sich Sorgen. Er war so dünn, sie würde aufpassen müssen. Nora lief den Flur entlang und machte vor Merles Zimmer halt. Sie öffnete die Tür. Sie schlief selig, ihren Teddy im Arm. Ein Geschenk von Vater. Ihren Ranzen hatte sie gepackt neben die Tür gestellt. Das konnte Nora an den Schulheften und Büchern sehen, die auf dem Schreibtisch verteilt lagen. Merle hatte eine eigentümliche Art ihren Ranzen zu packen. Sie warf alles auf den Schreibtisch und suchte sich das heraus, was sie brauchte. Der Rest blieb dann einfach liegen, fürs nächste Mal. Nora würde in dem Chaos nichts finden. Sie ging stets planvoll vor. Doch bisher gab es keine Beschwerden von den Lehrern, dass Merle je irgendetwas vergessen hätte. Wenigstens das, dachte Nora. Sie nahm Merles Teller und verließ leise das Zimmer. Auf dem Weg zur Küche musste sie am Wohnzimmer vorbei, in dem sie ihre Mutter vermutete. Die Tür war nur angelehnt und Stimmen waren zu hören. Auch Tabakgeruch drang nach draußen in den Flur. Mutter hatte wieder Besuch. Vermutlich war es eine ihrer Männerbekanntschaften, die sie irgendwann einmal in der Bar, in die sie am Wochenende ging, aufgegabelt hatte. Sie schauten dann immer wieder mal vorbei, in der Hoffnung auf ein bisschen Alkohol umsonst und ein klein wenig Spaß. Meist waren es schmierige Typen, von denen Nora sich schon den einen oder anderen vom Leib hatte halten müssen, wenn ihre Mutter zu betrunken war, als dass sie etwas mit ihr hätten anfangen können. Sie wollten Spaß und für sie machte es keinen Unterschied, mit wem. Der Alkoholpegel in ihrem Blut tat dann sein übriges. Eines Nachts kam einer von ihnen zu Nora ins Zimmer. Durch seine Berührungen war sie wach geworden. Er stank nach Schnaps und Zigaretten. Nur mit Müh und Not schaffte sie es, sich dank ihrer Gabe seiner zu erwehren. Sie nutzte sie selten, weshalb es schwierig für sie gewesen war, in seinen Geist einzudringen. Seitdem schloss sie ihre Tür immer ab, wenn sie schlafen ging. Bei dem Gedanken an das Erlebte erschauderte sie. Ganz vorsichtig schlich sich Nora am Wohnzimmer vorbei. Immer darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, mit dem sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte. In der Küche räumte sie die Teller in die Spülmaschine und ging dann ebenso leise wieder zurück in ihr Zimmer. Hinter sich schloss sie ab. Zweimal. Sicher ist sicher, dachte sie. Dann ging sie zu Bett und schlief sogleich ein. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen.
Posted on: Sun, 17 Nov 2013 13:10:06 +0000
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