Rüdiger Hölle Santiago Auf dem Jakobsweg vom Rothsee an - TopicsExpress



          

Rüdiger Hölle Santiago Auf dem Jakobsweg vom Rothsee an das Ende der Welt Was veranlasst einen Menschen eigentlich, eines Tages einen Rucksack aufzusetzen und zu Fuß nach Spanien zu gehen? Meine erste Berührung mit dem „Camino“ hatte ich damals, zwischen den Jahren 1975 bis 1979, als ich in Portugal lebte und arbeitete. Mit meinem VW-Bully-Wohnmobil klapperte ich an Wochenenden, Feiertagen und während meiner Urlaube die Iberische Halbinsel ab. Eines Tages fuhr ich über nordspanische Landstraßen und da sah ich immer wieder mal Gruppen von Menschen oder auch Einzelpersonen, mit Rucksack und Schlapphut und einem langen Stock in der Hand, auf dem Weg neben der Straße laufen. Die Sonne knallte erbarmungslos herunter und ich fragte mich, was diese Menschen wohl hierher treiben mag. Und warum sie sich diese Plage in der Hitze überhaupt antun. „Camino de Santiago“ sagten die Leute. Ich schüttelte den Kopf: „No comprendo“. Ein andermal führte mich eine Kurzreise übers verlängerte Wochenende hinauf über die spanische Grenze nach Galizien. Ich fand viele Ähnlichkeiten mit dem Norden Portugals, selbst in der Sprache. Irgendwann stand ich dann in der Kathedrale von Santiago de Compostela und bewunderte den riesigen Weihrauchkessel, welcher, von mehreren Männern an einem dicken Strick zum Schwingen gebracht, wie ein fauchender Feuerdrache durch das lange Querschiff, fast bis zur Decke hinauf und wieder zurück brauste. Die Leute zogen die Köpfe ein, wenn der Kessel von der Höhe der Kuppel herunterstürzte und reckten die Hälse, wenn er nach oben zu entschwinden schien. Es roch wie in einer Weihrauch-Fabrik, die gerade abbrennt. „Botafumeiro“ sagten die Leute. Ich schüttelte den Kopf: „No comprendo“. Am Hauptportal der Kirche stand geduldig eine Schlange von Menschen, die darauf warteten, zu der Säule zwischen den beiden inneren Portalen vortreten zu können, einer nach dem anderen. Jeder legte seine Finger in ein paar Mulden der verschnörkelten Säule und verharrte ein paar Sekunden andächtig. Die Säule war eigentlich dunkel von den Jahren, aber um die Stelle herum, an welche die Menschen ihre Hände führten, war sie abgegriffen und blank poliert und man erkannte hellen Marmor unter der braunen Patina. Einige der Menschen beugten sich nun nieder und legten ihre Stirn gegen die Stirn eines steinernen Kopfes, der sich unterhalb der Säule befand. „Man kommt mit Sicherheit wieder hierher zurück“, sagten die Leute, „wenn man die Finger in die Mulden der Säule legt und mit seiner Stirn die Stirn von Meister Mateo, dem Steinmetz berührt“. Ich schüttelte den Kopf: „No comprendo“. Aber neugierig, wie ich war, legte auch ich die fünf Finger meiner rechten Hand in die von Meister Mateo gefertigten Ornamente und siehe da, diese bildeten genau fünf Mulden in welche haargenau die Spitzen meiner vier Finger und meines Daumens passten. Nach ein paar Sekunden andächtigen Verweilens beugte ich mich hinab zu Mateo und presste meine Stirn gegen die seine. Kommt man bestimmt wieder? dachte ich. Bin ich deshalb jetzt, 30 Jahre später, hier auf diesem Weg? Aber nein! Ich bin doch nicht abergläubisch! Ein Ereignis, das mich animierte, mich intensiver mit dem Jakobsweg zu befassen, war der Diavortrag eines Lehrers, den ich ungefähr 1997 oder 1998 sah. Unmittelbar am Tage nach seiner Pensionierung schulterte der frisch gebackene Unruheständler seinen Rucksack und wanderte von zuhause aus auf dem Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela. Ein paar Jahre benötigte ich dann aber noch, bis bei mir selbst geistig alles für diesen Weg gereift war. Nachdem ich dann glücklicherweise in den vorgezogenen Ruhestand gehen konnte, war auch das Zeitproblem gelöst und ich konnte meinen eigenen Weg konkret zu planen beginnen. Besonders reizte mich die Möglichkeit, auf einem der geschichtsträchtigsten Wege Europas unbeschwert einfach von zuhause aus nach durchgehender Markierung zu Fuß bis zum ungefähr 2700 km entfernten Ziel Santiago de Compostela zu gehen, genau so, wie dies die vielen tausend Pilger schon im Mittelalter getan hatten. Allerdings musste man damals auch wieder zu Fuß nach Hause gehen. Ich hatte einen Plan: Am 12. April 2006 feiere ich mit meiner Frau gemütlich meinen 61. Geburtstag. Am 13. April 2006 stehe ich morgens sehr zeitig auf, schultere meinen bereitstehenden Rucksack, schlage die Gartentüre von außen zu und mache mich auf den Weg Richtung Santiago de Compostela und zwar über Ulm, durch die Schweiz nach Genf, über Le Puy, Moissac, Pyrenäen, Pamplona, Burgos und Leon. Meistens kommt es aber anders, als man denkt. Wir hatten nämlich ein Gewächshäuschen für den Garten bestellt. Ende März wurde es geliefert und natürlich musste es umgehend aufgebaut werden. Folgendes erachteten meine Frau und ich als unbedingt erforderlich: Fundament, Pflaster vor dem Gewächshaus, Pflasterweg im Gewächshaus, Anschluss an die Heizung unseres Hauses, Anschluss an die Drainagewasserleitung, Anschluss an die Trinkwasserleitung sowie elektrischer Anschluss. Und natürlich muss Erde eingefüllt werden und Tomaten, Gurken und Salat wollen gepflanzt sein. Das alles zu verwirklichen, dauerte natürlich seine Zeit. Als ich, als relativ ungeübter Heimwerker, endlich damit fertig war, war der Geburtstag längst vorüber und ich fürchtete, dass ich, wenn ich jetzt losginge, während der allerheißesten Jahreszeit, nämlich im Juli / August, durch Spanien wandern würde. Von der brennenden Sonne auf der Meseta hatte ich oft genug gelesen und gehört, was mir gehörigen Respekt einflößte. Deshalb kam Plan B zur Durchführung: Ich rechnete aus, wann ich zuhause losgehen müsste, um Spanien erst nach der größten Hitze, also frühestens Anfang September, an der Grenze in den Pyrenäen zu erreichen und dann bis etwa Mitte Oktober durch dieses Land zu laufen. Die Rechnung ergab: Starttag 10. Juli 2006 Nachdem ich den Starttermin verschoben hatte, konnte ich in aller Ruhe meine Ausrüstung für den Jakobsweg zusammenstellen. Zuerst musste natürlich eine Liste mit allen benötigten Utensilien erstellt werden. Nach deren Fertigstellung wurden sämtliche noch fehlende Ausrüstungsgegenstände beschafft. Der Tag davor Nach vielen Tagen der Vorbereitung ist es morgen so weit! Das Gewächshaus ist aufgebaut und die Tomaten, die Gurken und der Salat treiben Blättchen. Mein Rucksack ist gepackt und die Stiefel sind geputzt, die Haare auf 3 mm mit dem Bartschneider gestutzt. Der Kalender zeigt den 9. Juli 2006. Ich bin wahnsinnig aufgeregt. Im Bauch habe ich ein flaues Gefühl. Was wird wohl alles auf mich zukommen? Ich rechne mit ungefähr 110 Wandertagen bei durchschnittlich 25 km am Tag. Das macht ziemlich genau die 2750 km Gesamtstrecke, die ich laufen möchte. Wie viele Ruhetage ich einlegen möchte bzw. muss, kann ich jetzt überhaupt noch nicht beurteilen. Zwar bin ich ab und zu schon mal 25 km oder auch 30 km an einem Tag gelaufen, aber auf keinen Fall mehrere Tage lang in Folge. Deshalb habe ich keinerlei Ahnung, ob und wie ich den Anstrengungen der Wanderung gewachsen sein werde. Wenn ich aber, sagen wir mal, alle zwei Wochen einen Ruhetag einlege, so wären das rein rechnerisch ungefähr 8 Tage. Ob ich damit auskomme? Und für Santiago und für den Rückflug brauche ich auch noch 2 oder 3 Tage. Die Rechnung sieht also so aus: Wandertage: 110 Ruhetage: 008 Santiago: 002 Rückflug: 001 Summe: 121 Tage Demnach würde ich etwa um den 8. November herum wieder zuhause sein. Das sind fast genau 4 Monate, die ich unterwegs sein werde, vorausgesetzt, alles verläuft ohne Zwischenfäll Ein Stein Namens Piedra 1. Tag Montag, 10. Juli 2006, 36,4 km Eckersmühlen Lösmühle Wallersbach Wallesau Mauk Niedermauk Oberbreitenlohe Unterbreitenlohe Enderndorf Igelsbach-Staudamm Absberg Fallhaus Röthenhof Brombach Nach dem Frühstück um 06:00 Uhr morgens schultere ich ungeduldig und noch immer mit flauem Gefühl im Magen meinen Rucksack und verlasse das Haus. Ich freue mich sehr, dass Rosi mich noch ein Stück aus unserem Ort Eckersmühlen hinausbegleitet. Am Lösmühlweiher, nach einer Viertelstunde des Weges, ist der Abschied für uns beide jedoch doppelt schwer! Traurig steht meine Frau am Weg neben dem Weiher und sieht mir nach, als ich sie alleine zurücklasse. Mit feuchten Augen laufe ich schnell davon und winke noch ein paarmal zurück, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Den ganzen Tag über ist mir zum heulen zumute. Auf anfangs noch vertrauten Wegen wandere ich mit ungewohnt schwerem Rucksack durch unsere fränkischen „Kiefern-Steckerleswälder“. Nach etwa einer halben Stunde laufe ich am Waldwirtshaus Wallesau vorbei. Natürlich zeigt sich hier so früh am Morgen noch kein Mensch. Auf einem sandigen Waldweg, kurz nach Wallesau, finde ich „meinen“ Stein. Ich bin glücklich und zufrieden, weil er genau so aussieht, wie ich ihn mir schon lange vorgestellt hatte: ein schöner Handschmeichler-Quarz-Kieselstein, repräsentativ für unsere Gegend, weiß-grau, mit einigen carneolfarbenen Stellen, schön geformt und glatt und nicht allzu schwer, vielleicht 200 Gramm. Ich nenne ihn Piedra. Das ist Spanisch, heißt Stein und ist weiblich. Was ich mit so einem Stein will? Man sagt, dass in Spanien schon zu archaischer Zeit Handwerker auf der Walz waren, wie es das bei uns teilweise noch heute gibt. Einer dieser uralten Wanderwege diente den Wandergesellen als Initiationsweg. In Zusammenhang mit den Initiations-Gebräuchen legten die Wanderer auf einer Passhöhe in den Montes de Leon einen Stein ab, den sie von zuhause mitgebracht hatten. Zusammen mit der Last des Steines wurden sinnbildlich auch alle persönlichen Lasten, Ängste, Sorgen, Nöte oder Schuld abgelegt. Diese Zeremonie hatte so etwas wie eine reinigende Wirkung für Geist und Körper. Ist es Zufall, dass genau an dieser Stelle der Jakobsweg vorbeiführt? Jedenfalls hat man den Ort, wie viele „heidnische“ Orte, christianisiert. In diesem Falle wurde ein eisernes Kreuz aufgestellt, nämlich das „Cruz de Ferro“. Es sitzt auf einem langen, dicken, hölzernen Pfahl, welcher aus einem riesigen Haufen von Steinen herausragt. Auch heute noch pflegt der vorüberziehende Pilger das Ritual des Ablegens eines Steines, den er von zuhause mitgebracht hat, um sich all seiner Lasten zu befreien und Geist und Körper zu reinigen. Auch meine Piedra will ich dort niederlegen. Die ersten paar Stunden trage ich meine stumme Begleiterin in der Hand, damit sie sich an mich gewöhnt. Sie muss es schließlich 2500 km mit mir aushalten. Nach ein paar kleineren Irrwegen durch den Wald zwischen Wallesau und Niedermauck gelange ich in den kleinen Ort Oberbreitenlohe. Meine Füße sind schon recht müde und so mache ich, auf einem Bänkchen vor dem Backhäuschen am Dorfplatz, im Schatten einer alten Linde, meine erste Pilgerrast. Schuhe und Strümpfe ziehe ich aus und strecke die Beine weit von mir. Es gibt Vesper aus dem Rucksack, von den Vorräten, die mir Rosi mitgegeben hatte und dazu Leitungswasser aus meiner Plastik-Mineralwasserflasche. Bevor ich wieder aufbreche, salbe ich noch meine Füße mit meiner „geheimen Wundersalbe“: Scholl Hirschtalgcreme. Soll recht gut sein gegen Blasen, habe ich gehört. Manche Pilger schwören darauf. Nach den ersten Schritten stelle ich fest, ich laufe wie geschmiert! Es ist wolkenlos und wahnsinnig heiß. Eine echte Hochsommer-Hitzeperiode! Liegt es am immer noch flauen Magen und an der Unruhe, die ich wegen des schweren Abschieds von Rosi immer noch in mir habe? Jedenfalls, nahe einer Quelle im Wald, muss ich meine erste „kleine Wäsche“ erledigen. Nicht zu glauben, dass die aufgewühlte Seele sich so auf den Darm schlagen kann! Das Bächlein, in dessen Nähe das Malheur passiert, kommt mir sehr gelegen. Etwas Waschmittel aus der Tube und kurz darauf hängt das frisch gewaschene, kleine graue Bekleidungsstück zum trocknen außen an meinem Rucksack. Da kann ich gleich testen, ob „Odlo“ – Unterwäsche wirklich so schnell trocknet, wie die Werbung verspricht. Ich ziehe mein einziges verfügbares Ersatz-Kleidungsstück dieser Kategorie an. Damit ich die Hände gegebenenfalls für weitere unerwünschte Abenteuer frei habe, verstaue ich Piedra zuunterst in meinem Rucksack. Dort muss sie nun 100 Tage ausharren. Dann mache ich mich auf den Weiterweg. Die Weglein, die ich mir schon zuhause auf der Landkarte neongelb angemalt hatte, sollen mich ungefähr 35 km weit hinüberleiten zum markierten Jakobsweg, der von Nürnberg über Schwabach, Abenberg und Gunzenhausen weiter in Richtung Ulm und dann zum Bodensee führt. In Wirklichkeit sind meine Landkarten-Weglein aber teilweise arg zugewachsen oder auch überhaupt nicht mehr vorhanden. So muss ich des Öfteren durch Gestrüpp und Gebüsch kriechen. Wahrscheinlich hat sich dabei, ganz deutlich sichtbar, eine Zecke an meinen rechten Oberschenkel herangepirscht und darin festgebohrt. Sofort leite ich eine gründliche Selbstuntersuchung ein. Ich finde noch vier weitere der blutrünstigen Plagegeister. Ich bin ja auf Zecken vorbereitet, aber dass es mich gleich am ersten Vormittag meiner Wanderung so heftig erwischt, erstaunt mich doch. Ich hole meine Wanderapotheke aus dem Rucksack und packe meine Zeckenutensilien aus: Zeckenpinzette, Lupe, Kanüle, Feuerzeug und Desinfektionsspray. Zuerst versuche ich, alle 5 der lästigen Minivampire mit der Pinzette herauszuziehen. Bei dreien gelingt es mir ganz gut. Bei den anderen beiden muss ich die scharf geschliffene Kanüle zur Hand nehmen. Zuerst brenne ich diese mittels der Feuerzeugflamme keimfrei. Nun etwas Spray auf die Bissstelle und schon bohre ich mit der Kanüle in die Haut, direkt unter den Zeckenrüssel, welchen ich dann relativ einfach heraushebeln kann. Mit der Lupe kontrolliere ich das Ergebnis und bin mit mir sehr zufrieden. Zum Schluss nochmal Spray drauf und fertig! Ich muss nur in der nächsten Zeit beobachten, ob sich ein geröteter Hof bildet. Gegen Frühsommer-Meningitis bin ich ja geimpft, aber gegen Borreliose kann man halt nur hinterher mit Antibiotikum ´rumdoktern. Und selbst das soll nicht viel nützen, sagt man. Bald erreiche ich den Brombachsee. Mein ursprünglicher Plan war, in Enderndorf am See Quartier zu nehmen, aber als ich dort ankomme, ist mir alles viel zu touristisch. Ich beschließe, einfach weiterzugehen, und denke, ich könnte vielleicht sogar heute noch den mit Muschelzeichen markierten Jakobsweg erreichen. Also gehe ich über den Staudamm der Igelsbach-Vorsperre und laufe dann am nördlichen Ufer des Kleinen Brombachsees entlang. Es ist noch immer wahnsinnig heiß und da kommt mir der See für ein frisches Bad sehr gelegen. Munter und frisch laufe ich nach der Abkühlung weiter und sehe plötzlich, nachdem ich heute schon mehr als 30 km gegangen bin, die erste gelbe Muschel auf blauem Grund an einem Baum neben dem Waldweg. Ich bin auf dem Weg!
Posted on: Fri, 15 Nov 2013 11:21:04 +0000

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