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e-Mail an den Herrgott am 8. November 2013 Lieber Herrgott, im Bucerius-Kunstforum gleich neben dem Hamburger Rathaus werden gerade Bilder, Gemmen, Vasen und Skulpturen zum Thema: „Dionysos. Rausch und Ekstase“ gezeigt. Für protestantische Ohren gleich drei Fremdworte. Gut, Ausnahmen gibt es auch: die ekstatischen Pfingstgemeinden kreuz und quer über den Globus, aber ansonsten stehen diese drei Begriffe, die ja ein Lebensgefühl beschreiben, auf dem ungeschriebenen Index. Woher das kommt ist schnell geklärt: These 1 der 95 Thesen von Martin Luther: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: ‚Tut Busse‘ usw. (Mt 4, 17) wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Busse sei.“ Für das Lebensgefühl der Evangelischen war und ist dieser Satz der Kernsatz. Ein Gang durch eine x-beliebige Kirche lässt da keinen Zweifel zu: Nirgendwo gibt es eine Ästhetik der Lebensfreude, der Lust, des Spielerischen. Streng, ernst, nüchtern, besonnen, kontrolliert, beherrscht. Die Adjektive bilden die Grenzpfähle. Rausch? Verboten. Kontrollverlust? Igitt aber auch. Triumph der Lebensfreude? Der wird wohl gern abstrakt behauptet, aber nie gestaltet. Weder in der Kunst noch im kultischen Vollzug. Findet evangelisch sein nur in der linken Hirnhälfte statt? Das Animalische, das Wilde, das Entgrenzte im Menschen ist dort jedenfalls kein gutes Thema. Eher ein Pfui-Deibel-Areal. Einen Mönch mit Weinglas gibt es wohl in der katholischen Fraktion, selbst nackte Frauen sind würdige Sujets in den Paradiesbildern. In den Kirchen nach Luther steht das Kruzifix. Der Tod als Schreckensbild soll Menschen vor Leichtsinn bewahren. Friedrich Nietzsche hat als junger Philosophieprofessor mit 27 Jahren über Dionysos und Apollon nachgesonnen. Diese beiden olympischen Götter verkörperten für ihn zusammen den Menschen: Dionysos steht für das Rauschhafte, das Naturhafte, auch für die gerissenen Zügel - und Apoll für das Kontrollierte, Harmonische, Nüchterne. Zu Dionysos gehört ein leichter Anhauch des Wahnsinns - und zu Apoll der Lustverzicht. Sigmund Freud hat dem dem Fest eine wichtige Rolle für den inneren Ausgleich zugemessen: „Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzess, ein feierlicher Durchbruch des Verbotes. Nicht weil die Menschen infolge einer Vorschrift froh gestimmt sind, begehen sie Ausschreitungen, sondern der Exzess liegt im Wesen des Festes, die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt“ schreibt er in „Totem und Tabu“. Im Reich des Papstes gibt es den Karneval, in dem das alles so gefeiert wird. Rudolf Otto hat den Evangelischen ins Stammbuch geschrieben, dass sie aus der Kirche eine Schule gemacht hätten -Religion würde in Moral umgetopft: „Das Begriffliche und das Doktrinäre, das Ideal der ‚Lehre‘ überwog dem Unausprechlichen, nur im Gefühl Lebenden, dem lehrhaft nicht Tradierbaren.“ Und der Philosoph Peter Hodina entdeckt in den evangelischen Kirchen ‚elendige Wortwirtschaft, allerkleinlichste Gesetzeshuberei, Seelenzerknirschung, Schuldaufdrückerei’ und kommt zu dem Schluss: „Eigentlich werde ich dadurch zu einem noch und erst wirklich schlechten Menschen.“ In der klassischen Liturgie des Gottesdienstes schlurft der Christenmensch in das grelle Licht der Selbstanzeige: „Ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missetat…“ und am Ende bekommt er – meist im Fürbittgebet - noch einmal den nassen Scheuerlappen des „Zuwenig“ und „Du bist an allem schuld“ um die Ohren gehauen. Übersetzt heisst das: Du kriegst die Apollo-Nummer nicht auf die Reihe. Dafür landest du in der immerwährenden Verdammnis und im Gefängnis des unerlösbaren schlechten Gewissens. Kein Wunder, dass dieses halbierte Menschenbild keinen Frohsinn aufschäumen lässt. Das Dionysische, das andere Bein, mit dem der Mensch mit innerer Balance durchs Leben marschieren kann, ist ja amputiert. Vielleicht eine der trüben Quellen für die Übellaunigkeit auf der Kanzel und die trostlosen Gesichter in den Kirchenbänken. Und für eine Kultur, in der ein erigierter Penis und eine entblösste Scham das sofortigen Ausrücken der apollinarischen Sittenpolizei auslösen. Lebenslust als Fremdwort. Dionysos als Satan. Ja geht‘s noch? Könntest Du dagegen vielleicht ein bisschen unordentliche Lebensfreude vom Himmel herabträufeln? Danke im voraus!
Posted on: Fri, 08 Nov 2013 18:41:14 +0000

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