Der Truthahn Ich hatte keine richtige Lust auf das Abendessen bei - TopicsExpress



          

Der Truthahn Ich hatte keine richtige Lust auf das Abendessen bei Wollenweiser, entschloss mich dann aber doch hinzugehen. Heidi rief ich nicht an, ich würde sie ohnehin dort treffen. Und eine zusätzliche Absprache war nicht nötig. Wir wussten, wie wir uns zu verhalten hatten. Nach seinem Zusammenbruch schien es mir unhöflich, eine Flasche Whiskey mitzubringen, obwohl er selbst wieder Wein trank. Also kaufte ich ein paar Zeitschriften, die er gerne las. In einer Zeitschrift blätterte ich die Cartoons durch und musste lachen, weil mich eine Figur mit ihrem Schweinsgesicht sofort an Wollenweiser erinnerte. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, den Cartoon zu lesen, sonst würde er es persönlich nehmen. Nein, ich hatte wirklich keine Lust auf das Treffen, aber ich tat alles, um Heidi wieder zu sehen. „Kollege Sobel, schön, dass Sie gekommen sind. Frau Stolpenheide kommt bedauerlicherweise erst später. Dann müssen wir den Truthahn wohl alleine verspeisen. Aber ist vielleicht auch besser so, meine Lieblingsassistenten soll doch schlank bleiben.“ Dabei ergießt sich Wollenweiser in ein röhrendes Gelächter. Um ihn abzulenken, drücke ich ihm rasch die Zeitschriften in die Hand und entschuldige mich mit der Bitte, seine Toilette zu benutzen. Als ich mir später die Hände wasche, überlege ich krampfhaft, wie ich die Zeit mit ihm alleine überbrücken kann. Wieder muss ich mir eine Rolle ausdenken. Ich erfinde Geschichten, um mich zu entziehen. Ich wusste nur nicht, wie ich Wollenweiser dazu bringen könnte, mir die ganze Zeit zuzuhören. Er ist nicht der Typ der zuhört, sondern jede Gelegenheit nutzt, sich selbst ins Spiel zu bringen. „Was kann ich Ihnen zu trinken anbieten, Kollege Sobel?“ Einen Martini Dry mit Oliven oder vielleicht einen Aperol Spritz? Mein Koch hat mir mitgeteilt, dass der Truthahn noch ein bisschen Sonne braucht.“ Und wieder ertönt sein röhrendes Lachen. „Ich nehme einen Dry“, antworte ich kurz und mit dem Blick auf die Lounge, in die er mich führt. Als er sich in den roten Ledersessel fallen lässt und mit mir anstößt, erzähle ich ihm, dass ich bei den Yankees in New York war. "Und Roger meinte wirklich, Sie seien ein bisschen verloren?" Wieder überschlägt er sich in seinem prasselnden Lachen. Dabei wippt sein speckiger Bauch, dass er seinen Aperol Spritz auf den Boden verschüttet. Als er sich wieder beruhigt hat, wird er plötzlich ernst und streift sich durch die Pomadefrisur, als wolle er zu einem bedeutenden Vortrag ausholen. "Wissen Sie eigentlich, dass wir den Amerikanern in allem überlegen sind? Sie essen schlechter, erzählen schlechtere Witze und mischen sich im Namen Gottes überall ein. Und Sie fahren einfach dorthin und schauen sich ein Baseballspiel der Yankees an? Kollege Sobel, das ist wirklich das Dämlichste, was ich in meinem Leben gehört habe. Wenn ich Sie weiter ernst nehmen soll, dann geben Sie bitte auf der Stelle zu, dass Sie sich das nur ausgedacht haben." Es klingelt an der Tür. "Das muss Frau Stolpenheide sein. Das wurde auch Zeit, ich war im Begriff vor Langweile fast zu sterben." Er erhebt sich mühsam, aber so als wolle er seine Schwerfälligkeit mit übertriebener Sportlichkeit vertuschen und tänzelt wie ein Gockel zur Tür. Draußen aber ist scheinbar niemand, denn er tritt hinaus und ruft. "Frau Stolpenheide, treiben Sie keine Scherze mit ihrem Vorgesetzten. Kollege Sobel ist auch hier." Schweigen. Erst als ich selbst die Ruhe ungewöhnlich empfinde, gehe ich zur Tür. Ich finde niemanden, weder Heidi noch Wollenweiser. Der afrikanische Koch steht plötzlich neben mir, dass ich mich ein wenig erschrecke. Ich hatte ihn bisher noch nicht gesehen. "Wo ist der Herr Hausherr?", fragt er mit einem Blick in die Nacht. "Ich weiß es nicht." "Sehen Sie den Zettel?" "Welchen Zettel?" "Da oben auf dem Zauntor." "Ja, Sie haben Recht." Als wir am Zauntor angekommen sind, steige ich den Maschendraht hoch und nehme den aufgespießten Zettel in die Hand. Die Straßenlaternen werfen ein fahles Licht in den Eingang, so dass wir wieder zum Haus zurückgehen. Dann sehe ich Heidi und Wollenweiser im Eingang stehen und sich schütteln. " Entschuldigen Sie, Kollege Sobel, aber ihre Geschichte hat mich so gelangweilt, dass ich mir etwas einfallen lassen musste, um mich bei Laune zu halten." "Der Truthahn ist fertig", ruft uns der Koch zu. Ich erfinde Geschichten, um mich zu entziehen. Das Telefon bleibt stumm aber ich habe immer noch keine Nachricht von Kimberland.
Posted on: Mon, 26 Aug 2013 01:25:07 +0000

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