Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. Juli 1973 - TopicsExpress



          

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. Juli 1973 (Auszüge) 1. Bundesverfassungsgericht 1. GG Art. 59 Abs. 2, 23, 16 (Verfassungsmaßigkeit des Grundlagenvertrages) a) Art. 59 Abs. 2 GG verlangt für alle Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, die parlamentarische Kontrolle in der Form des Zustimmungsgesetzes, gleichgültig, ob der als Vertragspartner beteiligte Staat nach dem Recht des Grundgesetzes Ausland ist oder nicht. b) Der Grundsatz des judicial self-restraint zielt darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten. c) Mit der Entscheidung des Grundgesetzes für eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit ist es unvereinbar, daß die Exekutive ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren überspielt. Ergibt sich, wie in diesem Fall, ausnahmsweise einmal eine Lage, in der das Inkrafttreten eines Vertrags vor Abschluß des verfassungsgerichtlichen Verfahrens nach Auffassung der Exekutive unabweisbar geboten erscheint, so haben die dafür verantwortlichen Verfassungsorgane für die sich daraus möglicherweise ergebenden Folgen einzustehen. d) Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt: Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken - das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach Außen beharrlich zu vertreten und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde. e) Die Verfassung verbietet, daß die Bundesrepublik Deutschland auf einen Rechtstitel aus dem Grundgesetz verzichtet, mittels dessen sie in Richtung auf Verwirklichung der Wiedervereinigung und der Selbstbestimmung wirken kann, oder einen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtstitel schafft oder sich an der Begründung eines solchen Rechtstitels beteiligt, der ihr bei ihrem Streben nach diesem Ziel entgegengehalten werden kann. f) Der Vertrag hat einen Doppelcharakter; er ist seiner Art nach ein völkerrechtlicher Vertrag, seinem spezifischen Inhalt nach ein Vertrag, der vor allem inter-se-Beziehungen regelt. g) Art. 23 GG verbietet, daß sich die Bundesregierung vertraglich in eine Abhängigkeit begibt, nach der sie rechtlich nicht mehr allein, sondern nur noch im Einverständnis mit dem Vertragspartner die Aufnahme anderer Teile Deutschlands verwirklichen kann. h) Art. 16 GG geht davon aus, daß die "deutsche Staatsangehörigkeit", auf die auch in Art. 116 Abs. 1 GG in Bezug genommen ist, zugleich die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist. Deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur der Bürger der Bundesrepublik Deutschland. i) Ein Deutscher hat, wann immer er in den Schutzbereich der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gelangt, einen Anspruch auf den vollen Schutz der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland und aller Garantien der Grundrechte des Grundgesetzes. BVerfG, Urt. v. 31. 7. 1973 - 2 BvF 1/73 Das BVerfG - Zweiter Senat - hat auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 19. 6. 1973 durch Urteil für Recht erkannt: Das Gesetz zu dem Vertrag vom 21. 12. 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. 6. 1973 (BGBl. II 421) ist in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar . . . B. I. Der Antrag ist nach der Rechtsprechung des BVerfG, an der der Senat festhält, zulässig (vgl. insbesondere BVerfGE 4, 157 (161 ff.1) = NJW 55, 865. Das gilt auch, obwohl, wie im folgenden dargelegt wird, die DDR nach dem Recht des GG nicht Ausland ist. Denn Art. 59 Abs. 2 GG verlangt für alle Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, die parlamentarische Kontrolle in der Form des Zustimmungsgesetzes, gleichgültig ob der als Vertragspartner beteiligte Staat nach dem Recht des GG Ausland ist oder nicht ... III. Der Vertrag regelt die Grundlagen der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR. Seine Beurteilung macht erforderlich, sich mit den Aussagen des GG über den Rechtsstatus Deutschlands auseinanderzusetzen: 1. Das GG - nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! - geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist ... 2. Zum Wiedervereinigungsgebot und Selbstbestimmungsrecht, das im GG enthalten ist, hat das BVerfG bisher erkannt und daran hält der Senat fest: Dem Vorspruch des GG kommt nicht nur politische Bedeutung zu, er hat auch rechtlichen Gehalt. Die Wiedervereinigung ist ein verfassungsrechtliches Gebot. Es muß jedoch den zu politischem Handeln berufenen Organen der BRD überlassen bleiben zu entscheiden, welche Wege sie zur Herbeiführung der Wiedervereinigung als politisch richtig und zweckmäßig ansehen. Die Verfassungsorgane, denen im GG auch der Schutz der freiheitlichdemokratischen Grundordnung und ihrer Institutionen zur Pflicht gemacht ist, haben zu entscheiden, ob eine bestimmte, sonst verfassungsmäßige Maßnahme die Wiedervereinigung rechtlich hindern oder faktisch unmöglich machen würde und aus diesem Grunde unterbleiben müßte . . . 3. Der Vertrag kann so interpretiert werden, daß er mit keiner der dargelegten Aussagen des GG in Widerspruch gerät. Keine amtliche Äußerung innerhalb der BRD kann dahin verstanden werden, daß sie bei der Interpretation des Vertrages diesen verfassungsrechtlichen Boden verlassen hat oder verläßt. IV. 1. Der Vertrag kann rechtlich nur gewürdigt werden, wenn man ihn in einen größeren Zusammenhang stellt. Er ist ein Stück einer umfassenderen Politik, näherhin der von der Bundesregierung auf Entspannung angelegten Ostpolitik, innerhalb derer vor allem die Verträge von Moskau und Warschau herausragende Meilensteine sind; diese Verträge waren ebenso Voraussetzung für den Abschluß des Grundlagenvertrags, wie der Grundlagenvertrag seinerseits für die Bundesregierung ein Ziel war, das sie durch Abschluß jener beiden Ostverträge zu erreichen hoffte. In diesem Zusammenhang gewinnt der Grundvertrag dieselbe fundamentale Bedeutung wie der Moskauer und der Warschauer Vertrag. Er ist kein beliebig korrigierbarer Schritt wie viele Schritte in der Politik, sondern er bildet, wie schon sein Name sagt, die Grundlage für eine auf Dauer angelegte neue Politik. Dementsprechend enthält er weder eine zeitliche Befristung noch eine Kündigungsklausel. Er stellt eine historische Weiche, von der aus das Verhältnis zwischen der BRD und der DDR neu gestaltet werden soll. Dieser Zusammenhang ist für die rechtliche Beurteilung des Vertrags von mehrfacher Bedeutung: Er ist zwar in ähnlicher Weise wie das GG (vgl. Präambel, Art. 23 und 146 GG) keine endgültige Lösung der deutschen Frage. Gleichwohl kann er nicht als eine bloße "Übergangslösung" bis zu einer späteren "endgültigen" Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten qualifiziert werden; er ist kein vereinbarter "modus vivendi", der in absehbarer Zeit durch eine andere grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses zwischen diesen beiden Staaten abgelöst werden soll. Er selbst ist die ernsthaft gewollte neue Grundlage für die Bestimmung des Verhältnisses der beiden Staaten zueinander, - unbeschadet dessen, daß die Vertragsteile rechtlich frei sind, jederzeit übereinzukommen, den Vertrag in Übereinstimmung mit den für ihn geltenden Rechtsgrundsätzen zu ändern oder zu ergänzen . . . V.7. Aus der dargelegten besonderen Natur des Vertrags folgt, daß der Vertrag auch nicht unvereinbar ist mit der nach dem GG der Bundesregierung aufgegebenen Pflicht, allen Deutschen i.S. des Art. 116 Abs. 1 GG Schutz und Fürsorge angedeihen zu lassen. Sie ist nach wie vor befugt, innerhalb des Geltungsbereichs des GG, durch alle ihre diplomatischen Vertretungen und in allen internationalen Gremien, deren Mitglied sie ist, ihre Stimme zu erheben, ihren Einfluß geltend zu machen und einzutreten für die Interessen der deutschen Nation, zum Schutz der Deutschen i.S. des Art. 116 Abs. 1 GG und Hilfe zu leisten auch jedem Einzelnen von ihnen, der sich an eine Dienststelle der BRD wendet mit der Bitte um wirksame Unterstützung in der Verteidigung seiner Rechte, insbesondere seiner Grundrechte. Hier gibt es für die BRD auch künftig keinen rechtlichen Unterschied zwischen den Bürgern der BRD und "den anderen Deutschen". Das Eigentümliche dieses Vertrags liegt gerade darin, daß er selbst als "Grundlagenvertrag" neben den Rechtsgrundlagen, die schon vorher das rechtlich besondere Verhältnis zwischen BRD und DDR begründet haben - die Rechtslage des nicht untergegangenen, aber nicht organisierten Gesamtdeutschland und die Viermächte-Verantwortung für dieses Deutschland als Ganzes - eine zusätzliche neue Rechtsgrundlage bildet, die die beiden Staaten in Deutschland enger als normale völkerrechtliche Verträge zwischen zwei Staaten aneinander binden. 8. Der Vertrag ändert nichts an der Rechtslage Berlins, wie sie seit je von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, den Ländern der BRD und dem BVerfG gemeinsam unter Berufung und das GG verteidigt worden ist. Das GG verpflichtet auch für die Zukunft alle Verfassungsorgane in Bund und Ländern, diese Rechtsposition ohne Einschränkung geltend zu machen und dafür einzutreten. Nur in diesem Kontext dürfen die Erklärungen beider Seiten in bezug auf Berlin (West) ausgelegt und verstanden werden. Das bedeutet u.a. das Einvernehmen in Abs. 1 der Erklärungen, wonach die Ausdehnung von Abkommen und Regelungen, die im Zusatzprotokoll zu Art. 7 vorgesehen sind, in Übereinstimmung mit dem Viermächte-Abkommen v. 3. 9. 1971 auf Berlin (West) im jeweiligen Fall vereinbart werden kann, schränkt in keiner Weise die grundgesetzliche Pflicht der für die BRD handelnden Organe ein, bei jedem Abkommen und bei jeder Vereinbarung mit der DDR, die ihrem Inhalt nach auf das Land Berlin und seine Bürger ausgedehnt werden können, auf der Ausdehnung auf Berlin zu bestehen und nur abzuschließen, wenn der Rechtsstand Berlins und seiner Bürger gegenüber dem für den Geltungsbereich des GG geltenden Rechtsstand - vorbehaltlich des für Berlin geltenden alliierten Vorbehalts und "in Übereinstimmung mit dem Viermächte-Abkommen v. 3. 9. 1971 " - nicht verkürzt wird. Entsprechendes gilt für die Vereinbarung in Abs. 2, wonach die ständige Vertretung der BRD in der DDR die "Interessen" von Berlin (West) vertreten wird. Schließlich ist festzuhalten, daß die in Abs. 3 vorgesehene Möglichkeit von "Vereinbarungen zwischen der DDR und dem Senat", das Land Berlin nicht von der Beachtung der grundgesetzlichen Ordnung befreit... Quelle: Neue Jur. Wochenschrift 1973, Heft 35, S. 1539-1545
Posted on: Fri, 13 Sep 2013 17:14:09 +0000

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