Es folgt die herrlichste Kurzgeschichte die ich je gelesen - TopicsExpress



          

Es folgt die herrlichste Kurzgeschichte die ich je gelesen habe: Schischyphusch oder der Kellner meines Onkels Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert Dabei war mein Onkel naturlich kein Gastwirt. Aber er kannte einen Kellner. Dieser Kellner verfolgte meinen Onkel so intensiv mit seiner Treue und mit seiner Verehrung, dass wir immer sagten: Das ist sein Kellner. Oder: Ach so, sein Kellner. Als sie sich kennenlernten, mein Onkel und der Kellner, war ich dabei. Ich war damals gerade so gros, dass ich die Nase auf den Tisch legen konnte. Das durfte ich aber nur, wenn sie sauber war. Und immer konnte sie naturlich nicht sauber sein. Meine Mutter war auch nicht viel alter. Etwas alter war sie wohl, aber wir waren beide noch so jung, dass wir uns ganz entsetzlich schamten, als der Onkel und der Kellner sich kennenlernten. Ja, meine Mutter und ich, wir waren dabei. Mein Onkel naturlich auch, ebenso wie der Kellner, denn die beiden sollten sich ja kennenlernen und auf sie kam es an. Meine Mutter und ich waren nur als Statisten dabei und hinterher haben wir es bitter verwunscht, dass wir dabei waren, denn wir mussten uns wirklich sehr schamen, als die Bekanntschaft der beiden begann. Es kam dabei namlich zu allerhand erschrecklichen Szenen mit Beschimpfung, Beschwerden, Gelachter und Geschrei. Und beinahe hatte es sogar eine Schlagerei gegeben. Dass mein Onkel einen Zungenfehler hatte, ware beinahe der Anlass zu dieser Schlagerei geworden. Aber dass er einbeinig war, hat die Schlagerei dann schlieslich doch verhindert. Wir sasen also, wir drei, mein Onkel, meine Mutter und ich, an einem sonnigen Sommertag nachmittags in einem grosen prachtigen bunten Gartenlokal. Um uns herum sasen noch ungefahr zwei– bis dreihundert andere Leute, die auch alle schwitzten. Hunde sasen unter den schattigen Tischen und Bienen sasen auf den Kuchentellern. Oder kreisten um die Limonadenglaser der Kinder. Es war so warm und so voll, dass die Kellner alle ganz beleidigte Gesichter hatten, als ob das alles nur stattfande aus Schikane. Endlich kam auch einer an unseren Tisch. Mein Onkel hatte, wie ich schon sagte, einen Zungenfehler. Nicht bedeutend, aber immerhin deutlich genug. Er konnte kein s sprechen. Auch kein z oder tz. Er brachte das einfach nicht fertig. Immer wenn in einem Wort so ein harter s-Laut auftauchte, dann machte er ein weiches feuchtwasseriges sch daraus. Und dabei schob er die Lippen weit vor, dass sein Mund entfernte Ahnlichkeit mit einem Huhnerpopo bekam. Der Kellner stand also an unserem Tisch und wedelte mit seinem Taschentuch die Kuchenkrumel unserer Vorganger von der Decke. (Erst viele Jahre spater erfuhr ich, dass es nicht sein Taschentuch, sondern eine Art Serviette gewesen sein muss.) Er wedelte also damit und fragte kurzatmig und nervos: Bitte schehr? Schie wunschen? Mein Onkel, der keine alkoholarmen Getranke schatzte, sagte gewohnheitsmasig: Alscho: Schwei Aschbach und fur den Jungen Schelter oder Brausche. Oder wasch haben Schie schonscht? Der Kellner war sehr blass. Und dabei war es Hochsommer und er war doch Kellner in einem Gartenlokal. Aber vielleicht war er uberarbeitet. Und plotzlich merkte ich, dass mein Onkel unter seiner blanken braunen Haut auch blass wurde. Namlich als der Kellner die Bestellung der Sicherheit wegen wiederholte: Schehr wohl. Schwei Aschbach. Eine Brausche. Bitte schehr. Mein Onkel sah meine Mutter mit hochgezogenen Brauen an, als ob er etwas Dringendes von ihr wollte. Aber er wollte sich nur vergewissern, ob er noch auf dieser Welt sei. Dann sagte er mit einer Stimme, die an fernen Geschutzdonner erinnerte: Schagen Schie mal, schind Schie wahnschinnig? Schie? Schie machen schich uber mein Lischpeln luschtig? Wasch?“ Der Kellner stand da und dann fing es an, an ihm zu zittern. Seine Hande zitterten. Seine Augendeckel. Seine Knie. Vor allem aber zitterte seine Stimme. Sie zitterte vor Schmerz und Wut und Fassungslosigkeit, als er sich jetzt Muhe gab, auch etwas geschutzdonnerahnlich zu antworten: Esch ischt schamlosch von Schie, schich uber mich schu amuschieren, taktlosch ischt dasch, bitte schehr. Nun zitterte alles an ihm. Seine Jackenzipfel. Seine pomadenverklebten Haarstrahnen. Seine Nasenflugel und seine sparsame Unterlippe. An meinem Onkel zitterte nichts. Ich sah ihn ganz genau an: Absolut nichts. Ich bewunderte meinen Onkel. Aber als der Kellner ihn schamlos nannte, da stand mein Onkel doch wenigstens auf. Das heist, er stand eigentlich gar nicht auf. Das ware ihm mit seinem einen Bein viel zu umstandlich und beschwerlich gewesen. Er blieb sitzen und stand dabei doch auf. Innerlich stand er auf. Und das genugte auch vollkommen. Der Kellner fuhlte dieses innerliche Aufstehen meines Onkels wie einen Angriff und er wich zwei kurze zittrige unsichere Schritte zuruck. Feindselig standen sie sich gegenuber. Obgleich mein Onkel sas. Wenn er wirklich aufgestanden ware, hatte sich sehr wahrscheinlich der Kellner hingesetzt. Mein Onkel konnte es sich auch leisten, sitzen zu bleiben, denn er war noch im Sitzen ebenso gros wie der Kellner und ihre Kopfe waren auf gleicher Hohe. So standen sie nun und sahen sich an. Beide mit einer zu kurzen Zunge, beide mit demselben Fehler. Aber jeder mit einem vollig anderen Schicksal. Klein, verbittert, verarbeitet, zerfahren, fahrig, farblos, verangstigt, unterdruckt: der Kellner. Der kleine Kellner. Ein richtiger Kellner: Verdrossen, stereotyp hoflich, geruchlos, ohne Gesicht, nummeriert, verwaschen und trotzdem leicht schmuddelig. Ein kleiner Kellner. Zigarettenfingrig, servil, steril, glatt, gut gekammt, blaurasiert, gelbgeargert, mit leerer Hose hinten und dicken Taschen an der Seite, schiefen Absatzen und chronisch verschwitztem Kragen – der kleine Kellner. Und mein Onkel? Ach, mein Onkel! Breit, braun, brummend, baskehlig, laut, lachend, lebendig, reich, riesig, ruhig, sicher, satt, saftig – mein Onkel! Der kleine Kellner und mein groser Onkel. Verschieden wie ein Karrengaul vom Zeppelin. Aber beide kurzzungig. Beide mit demselben Fehler. Beide mit einem feuchten wasserigen weichen sch. Aber der Kellner ausgestosen, getreten von seinem Zungenschicksal, bockig, eingeschuchtert, enttauscht, einsam, bissig. Und klein, ganz klein geworden. Tausendmal am Tag verspottet, an jedem Tisch belachelt, belacht, bemitleidet, begrinst, beschrien. Tausendmal an jedem Tag im Gartenlokal an jedem Tisch einen Zentimeter in sich hineingekrochen, geduckt, geschrumpft. Tausendmal am Tag bei jeder Bestellung an jedem Tisch, bei jedem bitte schehr kleiner, immer kleiner geworden. Die Zunge, gigantischer unformiger Fleischlappen, die viel zu kurze Zunge, formlose zyklopische Fleischmasse, plumper unfahiger roter Muskelklumpen, diese Zunge hatte ihn zum Pygmaen erdruckt: kleiner, kleiner Kellner! Und mein Onkel! Mit einer zu kurzen Zunge, aber: als hatte er sie nicht. Mein Onkel, selbst am lautesten lachend, wenn uber ihn gelacht wurde. Mein Onkel, einbeinig, kolossal, slickzungig. Aber Apoll in jedem Zentimeter Korper und jedem Seelenatom. Autofahrer, Frauenfahrer, Herrenfahrer, Rennfahrer. Mein Onkel, Saufer, Sanger, Gewaltmensch, Witzereiser, Zotenflusterer, Verfuhrer, kurzzungiger spruhen der sprudelnder spuckender Anbeter von Frauen und Kognak. Mein Onkel, saufender Sieger, prothesenknarrend, breitgrinsend, mit viel zu kurzer Zunge, aber : als hatte er sie nicht! So standen sie sich gegenuber. Mordbereit, todwund der eine, lachfertig, randvoll mit Gelachtereruptionen der andere. Ringsherum sechs– bis siebenhundert Augen und Ohren, Spazierlaufer, Kaffeetrinker, Kuchenschleckerer, die den Auftritt mehr genossen als Bier und Brause und Bienenstich. Ach, und mittendrin meine Mutter und ich. Rotkopfig, schamhaft, tief in die Wasche verkrochen. Und unsere Leiden waren erst am Anfang. Schuchen Schie schofort den Wirt, Schie aggreschiver Schpatz, Schie. Ich will Schie lehren, Gaschte schu inschultieren. Mein Onkel sprach jetzt absichtlich so laut, dass den sechs bis siebenhundert Ohren kein Wort entging. Der Asbach regte ihn in angenehmer Weise an. Er grinste vor Wonne uber sein groses gutmutiges breites braunes Gesicht. Helle salzige Perlen kamen aus der Stirn und trudelten abwarts uber die massiven Backenknochen. Aber der Kellner hielt alles an ihm fur Bosheit, fur Gemeinheit, fur Beleidigung und Provokation. Er stand mit faltigen hohlen leise wehenden Wangen da und ruhrte sich nicht von der Stelle. Haben Schie Schand in den Gehorgangen? Schuchen Schie den Beschitscher, Schie beschoffener Schpasch vogel! Losch, oder haben Schie die Hosche voll, Schie mischgeschtalteter Schwerg? Da fasste der kleine kleine Pygmae, der kleine slickzungige Kellner, sich ein grosmutiges, gewaltiges, fur uns alle und fur ihn selbst uberraschendes Herz. Er trat ganz nah an unsern Tisch, wedelte mit seinem Taschentuch uber unsere Teller und knickte zu einer korrekten Kellnerverbeugung zusammen. Mit einer kleinen mannlichen und entschlossen leisen Stimme, mit uberwaltigender zitternder Hoflichkeit sagte er: Bitte schehr! und setzte sich klein, kuhn und kaltblutig auf den vierten freien Stuhl an unserem Tisch. Kaltblutig naturlich nur markiert. Denn in seinem tapferen kleinen Kellnerherzen flackerte die emporte Flamme der verachteten gescheuchten missgestalteten Kreatur. Er hatte auch nicht den Mut, meinen Onkel anzusehen. Er setzte sich nur so klein und sachlich hin und ich glaube, dass hochstens ein Achtel seines Gesases den Stuhl beruhrte. (Wenn er uberhaupt mehr als ein Achtel besas vor lauter Bescheidenheit.) Er sas, sah vor sich hin auf die kaffeeubertropfte grauweise Decke, zog seine dicke Brieftasche hervor und legte sie immerhin einigermasen mannlich auf den Tisch. Eine halbe Sekunde riskierte er einen kurzen Aufblick, ob er wohl zu weit gegangen sei mit dem Aufbumsen der Tasche, dann, als er sah, dass der Berg, mein Onkel namlich, in seiner Tragheit verharrte, offnete er die Tasche und nahm ein Stuck pappartiges zusammengeknifftes Papier heraus, dessen Falten das typische Gelb eines oft benutzten Stuck Papiers aufwiesen. Er klappte es wichtig auseinander, verkniff sich jeden Ausdruck von Beleidigtsein oder Rechthaberei und legte sachlich seinen kurzen abgenutzten Finger auf eine bestimmte Stelle des Stuck Papiers. Dazu sagte er leise, eine Spur heiser: und mit grosen Atempausen: Bitte schehr. Wenn Schieschehen wollen. Schtellen Schie hoflichscht schelbscht fescht. Mein Pasch. In Parisch geweschen. Barschelona. Oschnabruck bitte schehr. Alle schausch meinem Pasch schuerschehen. Und hier: Beschondere Kennscheichen: Narbe am linken Knie. (Vom Fusballspiel.) Und hier, und hier? Wasch ischt hier? Hier, bitte schehr: Schprachfehlerscheit Geburt. Bitte schehr. Wie Schie schelbscht schehen! Das Leben war zu rabenmutterlich mit ihm umgegangen, als dass er jetzt den Mut gehabt hatte, seinen Triumph auszukosten und meinen Onkel herausfordernd anzusehen. Nein, er sah still und klein vor sich auf seinen vorgestreckten Finger und den bewiesenen Geburtsfehler und wartete geduldig auf den Bass meines Onkels. Es dauerte nicht lange, bis der kam. Und als er dann kam, war es so unerwartet, was er sagte, dass ich vor Schreck einen Schluckauf bekam. Mein Onkel ergriff plotzlich mit seinen klobigen viereckigen Tatmenschenhanden die kleinen flatterigen Pfoten des Kellners und sagte mit der vitalen wutendkraftigen Gutmutigkeit und der tierhaft warmen Weichheit, die als primarer Wesenszug aller Riesen gilt: Armesch kleinesch Luder! Schind schie schon scheit deiner Geburt hinter dir her und hetschen? Der Kellner schluckte. Dann nickte er. Nickte sechs-, siebenmal. Erlost. Befriedigt. Stolz. Geborgen. Sprechen konnte er nicht. Er begriff nichts. Verstand• und Sprache waren erstickt von zwei dicken Tranen. Sehen konnte er auch nicht, denn die zwei dicken Tranen schoben sich vor seine Pupillen wie zwei undurchsichtige allesversohnende Vorhange. Er begriff nichts. Aber sein Herz empfing diese Welle des Mitgefuhls wie eine Wuste, die tausend Jahre auf einen Ozean gewartet hatte. Bis an sein Lebensende hatte er sich so uberschwemmen lassen konnen! Bis an seinen Tod hatte er seine kleinen Hande in den Pranken meines Onkels verstecken mogen! Bis in die Ewigkeit hatte er das horen konnen, dieses: Armesch kleinesch Luder! Aber meinem Onkel dauerte das alles schon zu lange. Er war Autofahrer. Auch wenn er im Lokal sas. Er lies seine Stimme wie eine Artilleriesalve uber das Gartenlokal hinweg drohnen und donnerte irgend einen erschrockenen Kellner an: Schie, Herr Ober! Acht Aschbach ! Aber losch, schag ich Ihnen! Wasch? Nicht Ihr Revier? Bringen Schie schofort acht Aschbach oder tun Schie dasch nicht, wasch? Der fremde Kellner sah eingeschuchtert und verblufft auf meinen Onkel. Dann auf seinen Kollegen. Er hatte ihm gern von den Augen abgesehen (durch ein Zwinkern oder so), was das alles zu bedeuten hatte. Aber der kleine Kellner konnte seinen Kollegen kaum erkennen, so weit weg war er von allem, was Kellner, Kuchenteller, Kaffeetasse und Kollege hies, weit weit weg davon. Dann standen acht Asbach auf dem Tisch. Vier Glaser davon musste der fremde Kellner gleich wieder mitnehmen, sie waren leer, ehe er einmal geatmet hatte. Laschen Schie dasch da nochmal volllaufen! befahl mein Onkel und wuhlte in den Innentaschen seiner Jacke. Dann pfiff er eine Parabel durch die Luft und legte nun seinerseits seine dicke Brieftasche neben die seines neuen Freundes. Er fummelte endlich eine zerknickte Karte heraus und legte seinen Mittelfinger, der die Mase eines Kinderarms hatte, auf einen bestimmten Teil der Karte. Schiehscht du, dummesch Haschchen, hier schtehtsch: Beinamputiert und Unterkieferschusch. Kriegschverletschung. Und wahrend er das sagte, zeigte er mit der anderen Hand auf eine Narbe, die sich unterm Kinn versteckt hielt. Die Oosch haben mir einfach ein Schtuck von der Schungenschpitsche abgeschoschen. In Frankreich damalsch. Der Kellner nickte. Noch bosche? fragte mein Onkel. Der Kellner schuttelte schnell den Kopf hin und her, als wollte er etwas ganz Unmogliches abwehren. Ich dachte nur schuerscht, Schie wollten mich utschen Erschuttert uber seinen Irrtum in der Menschenkenntnis wackelte er mit dem Kopf immer wieder von links nach rechts und wieder zuruck. Und nun schien es mit einmal, als ob er alle Tragik seines Schicksals damit abgeschuttelt hatte. Die beiden Tranen, die sich nun in den Hohlheiten seines Gesichtes verliefen, nahmen alle Qual seines bisherigen verspotteten Daseins mit. Sein neuer Lebensabschnitt, den er an der Riesentatze meines Onkels betrat, begann mit einem kleinen aufstosenden Lacher, einem Gelachterchen, zage, scheu, aber von einem unverkennbaren Asbachgestank begleitet. Und mein Onkel, dieser Onkel, der sich auf einem Bein, mit zerschossener Zunge und einem barigen bass stimmigen Humor durch das Leben lachte, dieser mein Onkel war nun so unglaublich selig, dass er endlich endlich lachen konnte. Er war schon bronzefarben angelaufen, dass ich furchtete, er musse jede Minute platzen. Und sein Lachen lachte los, unbandig, explodierte, polterte, juchte, gongte, gurgelte – lachte los, als ob er ein Riesensaurier ware, dem diese Urweltlaute entrulpsten. Das erste kleine neu probierte Menschlachen des Kellners, des neuen kleinen Kellnermenschen, war dagegen wie das schuttere Gehustel eines erkalteten Ziegenbabys. Ich griff angstvoll nach der Hand meiner Mutter. Nicht dass ich Angst vor meinem Onkel gehabt hatte, aber ich hatte doch eine tiefe tierische Angstwitterung vor den acht Asbachs, die in meinem Onkel brodelten. Die Hand meiner Mutter war eiskalt. Alles Blut hatte ihren Korper verlassen, um den Kopf zu einem grellen plakatenen Symbol der Schamhaftigkeit und des burgerlichen Anstandes zu machen. Keine Vierlander Tomate konnte ein roteres Rot ausstrahlen. Meine Mutter leuchtete. Klatschmohn war blass gegen sie. Ich rutschte tief von meinem Stuhl unter den Tisch. Siebenhundert Augen waren rund und riesig um uns herum. Oh, wie wir uns schamten, meine Mutter und ich. Der kleine Kellner, der unter dem heisen Alkoholatem meines Onkels ein neuer Mensch geworden war, schien den ersten Teil seines neuen Lebens gleich mit einer ganzen Ziegenmeckerlachepoche beginnen zu wollen. Er mahte, bahte, gnuckte und gnickerte: wie eine ganze Lammerherde auf einmal. Und als die beiden Manner nun noch vier zusatzliche Asbachs uber ihre kurzen Zungen schutteten, wurden aus den Lammern, aus den rosigen dunnstimmigen zarten schuchternen kleinen Kellnerlammern, ganz gewaltige holzern meckernde steinalte weisbartige blechscheppernde blodblokende Bocke. Diese Verwandlung vom kleinen giftigen tauben verkniffenen Bitterling zum andauernd, fortdauernd meckernden schenkelschlagenden geckernden blechern blokenden Ziegenbockmenschen war selbst meinem Onkel etwas ungewohnlich. Sein Lachen vergluckerte langsam wie ein absaufender Felsen. Er wischte sich mit dem Armel die Tranen aus dem braunen breiten Gesicht und glotzte mit asbachblankenstur erstaunten Augen auf den unter Lachstosen bebenden weisbejackten Kellnerzwerg. Um uns herum feixten siebenhundert Gesichter. Siebenhundert Augen glaubten, dass sie nicht richtig sahen. Siebenhundert Zwerchfelle schmerzten. Die, die am weitesten ab sasen, standen erregt auf, um sich ja nichts entgehen zu lassen. Es war, als ob der Kellner sich vorgenommen hatte, fortan als ein riesenhafter boshaft bahender Bock sein Leben fortzusetzen. Neuerdings, nachdem er wie aufgezogen einige Minuten in seinem eigenen Gelachter untergegangen war, neuerdings bemuhte er sich erfolgreich, zwischen den Lachsalven, die wie ein blechernes Maschinengewehrfeuer aus seinem runden Mund perlten, kurze schrille Schreie auszustosen. Es gelang ihm, so viel Luft zwischen dem Gelachter einzusparen, dass er nun diese Schreie in die Luft wiehern konnte. Schischyphusch schrie er und patschte sich gegen die nasse Stirn. Schischyphusch! Schiiischyyyphuuuusch! Er hielt sich mit beiden Handen an der Tischplatte fest und wieherte: Schischyphusch! Als er fast zwei Dutzend mal gewiehert hatte, dieses Schischyphusch aus voller Kehle gewiehert hatte, wurde meinem Onkel das Schischyphuschen zu viel. Er zerknitterte dem unaufhorlich wiehernden Kellner mit einem einzigen Griff das gestarkte Hemd, schlug mit der anderen Faust auf den Tisch, dass zwolf leere Glaser an zu springen fingen, und donnerte ihn an: Schlusch! Schlusch, schag ich jetscht. Wasch scholl dasch mit dieschem blodschinnigen schaudummen Schischyphusch? Schlusch jetseht, verschtehscht du! Der Griff und der gedonnerte Bas meines Onkels machten aus dem schischyphusch schreienden Ziegenbock im selben Augenblick wieder den kleinen lispelnden armseligen Kellner. Er stand auf. Er stand auf, als ob es der groste Irrtum seines Lebens gewesen ware, dass er sich hingesetzt hatte. Er fuhr sich mit dem Serviettentuch durch das Gesicht und raumte Lachtranen, Schweistropfen, Asbach und Gelachter wie etwas hinweg, das fluchwurdig und frevelhaft war. Er war aber so betrunken, dass er alles fur einen Traum hielt, die Pobelei am Anfang, das Mitleid und die Freundschaft meines Onkels. Er wusste nicht: Hab ich nun eben Schischyphusch geschrien? Oder nicht? Hab ich schechsch Aschbach gekippt, ich, der Kellner dieschesch Lokalsch, mitten unter den Gaschten? Ich? Er war unsicher. Und fur alle Falle machte er eine abgehackte kleine Verbeugung und flusterte: Verscheihung! Und dann verbeugte er sich noch einmal: Verscheihung. Ja, verscheihen Schie dasch Schischyphuschgeschrei. Bitte schehr. Verscheihen der Herr, wenn ich schu laut war, aber der Aschbach, Schie wischen ja schelbscht, wenn man nichts eh gegeschen hat, auf leeren Magen. Bitte schehr darum. Schischyphusch war namlich mein Schpitschname. Ja, in der Schule schon. Die gansche Klasche nannte mich scho. Schie wischen wohl, Schischyphusch, dasch war der Mann in der Holle, diesche alte Schage, wischen Schie, der Mann im Hadeseh, der arme Schunder, der einen groschen Felschen auf einen rieschigen Berg raufschieben schollte, eh, muschte, ja, dasch war der Schischyphusch, wischen Schie wohl. In der Schule muschte ich dasch immer schagen, immer diesch Schischyphusch. Und allesch hat dann gepuschtet vor Lachen, konnen Schieschich denken, werter Herr. Allesch hat dann gelacht, wischen Schie, schintemalen ich doch die schu kursehe Schungenschpitsche beschitsche. Scho kam esch, dasch ich schpater uberall Schischyphuschgeheischen wurde und gehanschelt wurde, schehen Schie. Und daseh, verscheihen, kam mir beim Aschbach nun scho insch Gedachtniseh, alsch ich scho geschrien habe, verschtehen. Verscheihen Schie, ich bitte schehr, verscheihen Schie, wenn ich Schie belaschtigt haben schollte, bitte schehr. Er verstummte. Seine Serviette war indessen unzahlige Male von einer Hand in die andere gewandert. Dann sah er auf meinen Onkel. Jetzt war der es, der still am Tisch sas und vor sich auf die Tischdecke sah. Er wagte nicht, den Kellner anzusehen. Mein Onkel, mein barischer bulliger riesiger Onkel wagte nicht aufzusehen und den Blick dieses kleinen verlegenen Kellers zu erwidern. Und die beiden dicken Tranen, die sasen nun in seinen Augen. Aber das sah keiner auser mir. Und ich sah es auch nur, weil ich so klein war, dass ich ihm von unten her ins Gesicht sehen konnte. Er schob dem still abwartenden Kellner einen machtigen Geldschein hin, winkte ungeduldig ab, als der ihm zuruckgeben wollte, und stand auf, ohne jemanden anzusehen. Der Kellner brachte noch zaghaft einen Satz an: Die Aschbach wollte ich wohl gern beschahlt haben, bitte schehr. Dabei hatte er den Schein schon in seine Tasche gesteckt, als erwarte er keine Antwort und keinen Einspruch. Es hatte auch keiner den Satz gehort und seine Groszugigkeit fiel lautlos auf den harten Kies des Gartenlokals und wurde da spater gleichgultig zertreten. Mein Onkel nahm seinen Stock, wir standen auf, meine Mutter stutzte meinen Onkel und wir gingen langsam auf die Strase zu. Keiner von uns dreien sah auf den Kellner. Meine Mutter und ich nicht, weil wir uns schamten. Mein Onkel nicht, weil er die beiden Tranen in den Augen sitzen hatte. Vielleicht schamte er sich auch, dieser Onkel. Langsam kamen wir auf den Ausgang zu, der Stock meines Onkels knirschte hasslich auf dem Gartenkies und das war das einzige Gerausch im Augenblick, denn die drei– bis vierhundert Gesichter an den Tischen waren stumm und glotzaugig auf unseren Abgang konzentriert. Und plotzlich tat mir der kleine Kellner leid. Als wir am Ausgang des Gartens um die Ecke biegen wollten, sah ich mich schnell noch einmal nach ihm um. Er stand noch immer an unserem Tisch. Sein weises Serviettentuch hing bis auf die Erde. Er schien mir noch viel viel kleiner geworden zu sein. So klein stand er da und ich liebte ihn plotzlich, als ich ihn so verlassen hinter uns herblicken sah, so klein, so grau, so leer, so hoffnungslos, so arm, so kalt und so grenzenlos allein! Ach, wie klein! Er tat mir so unendlich leid, dass ich meinen Onkel an die Hand tippte, aufgeregt, und leise sagte: Ich glaube, jetzt weint er. Mein Onkel blieb stehen. Er sah mich an und ich konnte die beiden dicken Tropfen in seinen Augen ganz deutlich erkennen. Noch einmal sagte ich, ohne genau zu verstehen, warum ich es eigentlich tat: Oh, er weint. Kuck mal, er weint. Da lies mein Onkel den Arm meiner Mutter los, humpelte schnell und schwer zwei Schritte zuruck, riss seinen Kruckstock wie ein Schwert hoch und stach damit in den Himmel und brullte mit der ganzen grosartigen Kraft seines gewaltigen Korpers und seiner Kehle: Schischyphusch! Schischyphusch! Horseht du? Auf Wiederschehen, alter Schischyphusch! Bisch nachschten Schonntag, dummesch Luder! Wiederschehen! Die beiden dicken Tranen wurden von den Falten, die sich jetzt uber sein gutes braunes Gesicht zogen, zu nichts zerdruckt. Es waren Lachfalten und er hatte das ganze Gesicht voll davon. Noch einmal fegte er mit seinem Kruckstock uber den Himmel, als wollte er die Sonne herunterraken, und noch einmal donnerte er sein Riesenlachen uber die Tische des Gartenlokals hin: Schischyphusch! Und Schischyphusch, der kleine graue arme Kellner, wachte aus seinem Tod auf, hob seine Serviette und fuhr damit auf und ab wie ein wildgewordener Fensterputzer. Er wischte die ganze graue Welt, alle Gartenlokale der Welt, alle Kellner und alle Zungenfehler der Welt mit seinem Winken endgultig und fur immer weg aus seinem Leben. Und er schrie schrill und uberglucklich zuruck, wobei er sich auf die Zehen stellte und ohne sein Fensterputzen zu unterbrechen: Ich verschtehe! Bitte schehr! Am Schonntag! Ja, Wiederschehen! Am Schonntag, bitte schehr! Dann bogen wir um die Ecke. Mein Onkel griff wieder nach dem Arm meiner Mutter und sagte leise: Ich weisch, esch war schieher entschetschlich fur euch. Aber wasch schollte ich anders eh tun, schag schelbscht. Scho n dummer Hasche. Lauft nun schein gansches Leben mit scho einem garschtigen Schungenfehler herum. Armesch Luder dasch!
Posted on: Mon, 02 Dec 2013 00:13:45 +0000

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