Kopf kontra Bauch: Argumente gegen die gängige - TopicsExpress



          

Kopf kontra Bauch: Argumente gegen die gängige Lebenslüge Häufig, wenn Deutsche in gelöster Stimmung beieinander stehen oder sitzen, stellt sie sich ein. Sie ist fester Bestandteil manch geselligen Anlasses, manch angeregter Diskussion. Deutschland ohne sie kann man sich oft kaum vorstellen. So sehr gehört sie inzwischen zu ihr. Denn sie stiftet Frieden, Harmonie, ‚Ruhe‘, Gemeinschaft, angenehme Atmosphäre, kurzum die Basis für gepflegte Kommunikation – so jedenfalls empfinden es viele. Von Robert Schlickewitz Die Rede ist von der Lieblingslebenslüge der Deutschen, die sich in solchen Redensarten offenbart wie „Wir sind ein ganz normales Volk“, „Wir Deutschen sind auch nicht anders als die anderen“, „Deutschland ist ein vollkommen normales Land“ etc. Es gehört zum guten Ton im Deutschland des 21. Jahrhunderts solche Phrasen nicht in Frage zu stellen und sie nicht zu diskutieren, sondern sie als Faktum, oder eher noch, als Gebot zu akzeptieren. Wer es dennoch wagte sie in Gesellschaft etwa zu relativieren, muss damit rechnen als erkannter Stimmungsstörer zumindest Gehör entzogen zu bekommen. Dabei erscheint es als geradezu bedauerlich, dass sich ganz offensichtlich niemand der Mühe unterwirft, jene Lebenslügen einmal einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Denn eine solche Prüfung, die nichts anderes als die kritische Hinterfragung der eigenen Identität beinhaltet, kann heilsame Erkenntnisse zu Tage fördern, Erkenntnisse, die ich den Lesern nicht vorenthalten will. Vorab noch Folgendes zur Abklärung: Wenn, wie hier, im nichtwissenschaftlichen Sinn, von Deutschland als ‚normalem Land‘ gesprochen wird, so erhebt sich dennoch der Bedarf nach einem oder mehreren passenden Referenzländern. Wollte man Bevölkerungsgröße und Bedeutung gerecht werden, so böten sich in erster Linie Frankreich, Italien und Großbritannien an. In zahlreichen meiner bisherigen Veröffentlichungen zur Juden- sowie zur Sinti-und-Roma-Geschichte (u.a.: sintiromabayern.de und judenundbayern.de) habe ich die Behauptung erhoben, dass es kein Land gibt, welches sich mit Deutschland in puncto Intoleranz messen kann, zieht man jeweils die vielhundertjährige Geschichte dieser Minderheiten im Herzland Europas als Maßstab heran. Bisher hat noch niemand einen ernsthaften Versuch unternommen mir diesbezüglich zu widersprechen, da die Beleglage wohl eindeutig für meine Annahme spricht. Dies ist ein wesentliches (erstes) Argument dafür, warum besser nicht von Deutschland als ‚normalem‘ Land gesprochen werden sollte. Noch einen weiteren Aspekt der Gesellschaftsgeschichte möchte ich heranziehen – die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa. Dieses Phänomen kam im 15. Jahrhundert, also gegen Ende des Mittelalters, auf, und klang erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder ab; es betraf so gut wie alle europäischen Völker, wenngleich unterschiedlich intensiv; es waren jeweils alle Bevölkerungsschichten betroffen, von ganz unten bis oben; Hexen konnten auch Kinder oder Männer sein. Stets war die Kirche involviert, und zwar die katholische ebenso wie die reformierte. Soweit die äußeren Gemeinsamkeiten, wie sie allen europäischen Völkern gemein waren. Als spezifisch deutsch hingegen erwiesen sich folgende Abweichungen: Nirgends fielen diesem kollektiven Wahn so viele Menschen zum Opfer wie bei uns. Hier die Bilanz des Schreckens: Deutschland: 25 000 Hingerichtete Polen/Litauen: 10 000 Schweiz: 4000 Frankreich: 4000 (?) Britannien: 1500 Italien, Dänemark, Österreich, jeweils: 1000 (?) Ungarn: 800 Spanien: 300 Nirgendwo dauerte diese Zeiterscheinung so lange an – die letzte Hexe Deutschlands wurde noch 1775 (im Allgäu) hingerichtet. Vergleichende Studien stellen immer wieder fest, dass die die einzelnen Fälle begleitende Folter etwa in Italien wesentlich seltener angewandt wurde, dass italienische Hexen häufig mit milderen Strafen davonkamen, während in Deutschland oft bereits während der Folter der Exitus eintrat. Und wenn nicht, dann sorgte das später gefällte Urteil dafür, dass die Überlebenschancen deutscher Hexen minimal blieben. Hexenforscher weisen ferner darauf hin, dass dieses Phänomen in Deutschland größere Bevölkerungsteile mobilisierte, ja, dass es zu Massenhysterien mit irrationalen Gewaltausbrüchen in Zusammenhang mit Hexenprozessen kam; dass diverse weltliche oder geistliche Einzelpersonen immer wieder die Gelegenheit nutzten sich als fanatische Ankläger und Aufhetzer zu gebärden, die die Massen zu manipulieren versuchten; dass schließlich deutsche Juristen ohne Gnade oder Einsehen, rein aus vermeintlicher „Pflichterfüllung“ urteilten und richteten. Schließlich scheinen Deutsche die Hexenverfolgungen in vielen Fällen regelrecht gefordert zu haben und Klerus bzw. Territorialfürst blieb oft keine andere Wahl, wollte man gefährlichen Aufruhr vermeiden, als diesem sonderbaren Begehren ‚von unten‘ Folge zu leisten. Als nächstes sollen einige Aspekte der Geschichte der Kriege und der Kriegsverbrechen der späten Neuzeit einer knappen Betrachtung unterworfen werden, um gleichfalls zu belegen – kein ‚normales‘ Volk bzw. kein ‚normales‘ Land. Fakt ist, dass es Deutschland war, welches zwei Weltkriege vom Zaun brach, mit zusammen weit über 60 Millionen Toten. Unerheblich ist hierbei der nähere Anlass, es geht allein um die Autorenschaft für die Auslösung dieser beiden mehrjährigen, militärischen Auseinandersetzungen mit katastrophalen Folgen. Nicht minder gilt als Tatsache, dass Deutschland die Geschichte der Kriegsverbrechen in Europa durch sein Verhalten im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71), im Ersten Weltkrieg und besonders im Zweiten Weltkrieg entscheidend negativ mitgeprägt hat. Kein anderes europäisches Land fand sich derart häufig mit diesbezüglichen Anklagen konfrontiert. Die hohe Anzahl deutscher Kriegsverbrechen, der lange Zeitraum, in dem sie begangen wurden, die vielen Staaten deren Bürger zu den Betroffenen zählten – kein anderes Land Europas kann sich hierbei mit Deutschland ‚messen‘. Sechs Millionen Juden kostete der von Deutschen geschaffene, von ihnen getragene und von ihnen bis zur traurigen Perfektion ausgelebte neue Wahn Nationalsozialismus das Leben. Über die Unvergleichlich- und Unvergleichbarkeit dieses einzigartigen Völkermordes muss ich hier nicht näher eingehen. „Aber wir Deutschen von heute, wir Deutschen, die wir zwei, ja drei Generationen nach 1945 geboren wurden – wir haben doch damit nichts mehr zu tun. Wir sind ganz normale Europäer wie andere auch! Uns geht doch all das Vergangene nichts mehr an, wir sind frei von jedweder Schuld oder Verantwortung!“ – sagen manche. Im Jahre 2000 erschien in Potsdam ein schmales Bändchen, dessen Titel, Titelabbildung und Inhalt zwar unpopulär gewirkt haben mögen, bei dem jedoch zumindest die Tatsache, dass niemand Geringerer als Professor Julius H. Schoeps für das Nachwort als verantwortlich zeichnete, dafür sorgte, dass es nicht unbeachtet blieb und dass es Eingang fand in zahlreiche Bibliotheken. Adolf Diamant, sein Autor, weist in ihm minutiös nach, dass in den Jahren 1945 bis 1999 in Deutschland über eintausend jüdische Friedhöfe geschändet wurden. Zunächst, in den Jahren 1945 bis 1959, mit der noch relativ bescheidenen ‚Schändungsrate‘ von durchschnittlich 9,2 Friedhöfen pro Jahr, dann in den 1960er Jahren mit 11,4 pro Jahr, in den 1970ern bereits mit 19,1 pro Jahr, in den 1980ern mit 16,7 pro Jahr und in den 1990ern mit 40,2 (vierzig Komma zwei) Friedhöfen pro Jahr. Kein anderes europäisches, aber auch kein arabisches, Land kann sich in dieser ‚Disziplin‘ mit Deutschen auch nur ansatzweise messen. Wie wir den Tagesnachrichten regelmäßig entnehmen können, setzt sich die unrühmliche Folge derartiger Hassverbrechen auch in unserem vermeintlich so aufgeklärten und angeblich von den finsteren NS-Zeiten Lichtjahre entfernten 21. Jahrhundert fort. Nur vier Jahre nach Veröffentlichung von Diamants Buch belehrte uns der TAZ-Redakteur Philipp Gessler in „Der neue Antisemitismus – Hinter den Kulissen der Normalität“ darüber, dass es im neuen, vereinten Postmilleniums-Deutschland nicht mehr nur toten Juden ‚an den Kragen‘ geht, sondern dass sich immer häufiger hasserfüllte Beschimpfungen, tätliche Übergriffe und regelrechte Überfälle auf in Deutschland lebende oder hier zu Besuch weilende Juden ereigneten; Juden, die den ‚Fehler‘ begangen hatten, sich durch offenes Tragen einer Kippa oder eines Davidsternkettchens aus der Anonymität der Masse heraus zu bewegen. Gesslers Buch steht hier nur stellvertretend für eine ganze Reihe vergleichbarer Publikationen, aber auch wissenschaftlicher Aufsätze und unzähliger Medienberichte, die in schöner Regelmäßigkeit die Deutschen darüber informieren, wie minderheiten- und fremdenfeindlich ihre angestammte Umgebung inzwischen geworden ist. Denn so unappetitlich und rufschädigend für das Land derartige Meldungen sein mögen, die Medien nahmen sich ihrer in den meisten Fällen an und es wurden auch die bedenklichen, sich abzeichnenden Tendenzen keinesfalls unterdrückt. Kein Deutscher kann sich daher herausreden, er habe diese Entwicklungen nicht mitbekommen. Presse, Rundfunk und TV sind ihrer Informationspflicht durchaus nachgekommen. So auch Anfang Dezember 2010, als die Ergebnisse einer repräsentativen Studie der Universität Münster zu Toleranz der Deutschen gegenüber Ausländern (Muslimen) und gegenüber Juden publiziert wurden. Auch wer solche ‚unschönen‘ Erhebungen gewöhnlich links liegen lässt, hat die Meldungen zumindest überflogen – zu reißerisch, und damit beunruhigend, waren diesmal die Überschriften oder Fettzeilen mit denen die Presse ihre diesbezüglichen Artikel garnierte, formuliert. Ja, da stand es, schwarz auf weiß: Trotz Hitler und Holocaust, trotz Entnazifizierung, trotz jahrzehntelanger Belehrung in der Schule, in sämtlichen Medien und zu Hause zählte man in keinem anderen europäischen Land so viele Menschen, die antijüdisch eingestellt sind, wie in Deutschland. Der deutsche Prozentsatz übertrifft den europäischen Durchschnittswert sogar um das Doppelte. Unter solchen Umständen noch von einem ‚normalen‘ Volk, oder einem ‚normalen‘ Land zu sprechen, würde den, der es dennoch täte, zu einem Narren, oder aber zu einem Neonazi abstempeln. Trotz all dem Gesagten wäre immer noch folgende Einschränkung der gängigen Lebenslüge denkbar: „Alle diese Akte der Judenfeindlichkeit werden doch ‚nur‘ von einer relativ kleinen Minderheit begangen; kann man deshalb nicht zumindest jenen Mehrheits-Deutschen, die sich tadelfrei verhielten‚ ‚Normalität‘ zugestehen?“ Dem würde ich den Fall des „Problembären“ Bruno in Bayern vom Sommer des Jahres 2006 entgegenhalten: Ein Bär, ein Schuss und Deutschland zwischen Alpen und Ost- bzw. Nordsee schrie gemeinsam und vereint, laut und empört auf. Bürgerinitiativen entstanden, Tierschützer landauf und landab machten mobil, Wissenschaftler aller möglicher Fakultäten wurden bemüht, das Thema in sämtlichen denkbaren Facetten diskutiert. Am Ende geriet sogar der damalige bayerische Landesvater, Edmund Stoiber, in Erklärungsnot und musste um Sympathiewerte seiner CSU bangen. Monatelang hielt sich Bruno in den Medien und zwei Jahre später kam er ausgestopft erneut daher. Wie jedoch reagierten die gleichen so engagierten, modernen, braven Deutschen, als sie vom Buch Diamants erfuhren, oder von den zahlreichen anderen Studien zum alarmierenden Ansteigen des Antisemitismus‘ in ihrem Land, oder von den Resultaten der jüngsten Umfrage von Dezember 2010? Indem sie überhaupt nicht reagierten, reagierten sie zwar vollkommen ‚normal‘ für deutsche Verhältnisse, freilich als ganz und gar nicht ‚normal‘ müsste ihre Reaktion eingeschätzt werden, falls man sich die weit über tausendjährige Geschichte mörderischen, deutschen Judenhasses vor Augen hielte und die doch wohl nicht übertriebene Erwartung hegte, es müsse doch irgendwann endlich Einsicht Einzug halten in diesem Land. Solange Deutsche nicht auf breiter Basis beginnen, sich zu kümmern, sich zu interessieren, Fragen zu stellen, Mitgefühl für das Schicksal anderer zu entwickeln, den gewohnten Kreis aus Desinteresse, Gleichgültigkeit und Passivität zu überwinden – solange haben sie kein Anrecht darauf sich als ‚normales Volk‘ zu fühlen oder sich so zu bezeichnen, meine ich. Literatur: W. Behringer, Hexen, München 2005 Adolf Diamant, Geschändete Friedhöfe in Deutschland 1945 bis 1999, Potsdam 2000 Philipp Gessler, Der neue Antisemitismus, Freiburg im Breisgau 2004 „Hexenjagd“ von Fenja Mens, in: National Geographic, Dezember 2006, S. 56-82
Posted on: Sun, 22 Sep 2013 21:21:52 +0000

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