Leseprobe, Der Traumlord 2 (Kapitel 53): LIII. In dieser Stadt, - TopicsExpress



          

Leseprobe, Der Traumlord 2 (Kapitel 53): LIII. In dieser Stadt, so schien es Manfred, waren alle verrückt geworden. Er war nun seit etwas mehr als einer Woche auf der Insel und lebte in einem kleinen Gasthof am südlichen Stadtrand. Das Zimmer, welches er bewohnte, war nicht besonders groß und auch nicht gerade prachtvoll eingerichtet, dafür jedoch sauber und mit einem herrlichen Ausblick auf die Wälder im Süden der Insel. Das Wetter der vergangenen Tage war schön und warm gewesen, so dass er ausgedehnte Spaziergänge am Strand und in den Wäldern bis hin zu den Bergen hatte unternehmen können. Die Naturschönheiten der Insel, die so unberührt schienen wie am ersten Tag, hatten ihn in eine angenehme Stimmung versetzt. Problemlos war es ihm gelungen, einige heitere Skizzen zu Papier zu bringen. Es waren Zeichnungen, die die Üppigkeit der Landschaft und die Schönheit der Natur priesen. Manfred war stolz auf sich. Auch dieser Abend war wieder lau und voller Düfte gewesen. Vögel sangen in den Zweigen ihre Abendlieder und vom Wald antworteten ihnen die Stimmen wilder Tiere. Eine Katze sang vor dem Gasthof den Mond an bis ein streunender Straßenköter sie von ihrem Platz vertrieb. Manfred hatte ihnen vom Fenster aus zugesehen und beschlossen, einen nächtlichen Bummel durch die Stadt zu machen, die sich nach Einbruch der Dunkelheit in einen unbelebten Ort zu verwandeln schien. Die Häuser zeigten die stumme, ehrfurchtverheißende Würde von Grabstätten längst vergessener Könige. Hinter einigen wenigen Fenstern flackerte eine Kerze oder das Feuer eines Kamins. Nur in den Gasthäusern der Innenstadt herrschte noch Betriebsamkeit, denn dort betranken sich allabendlich die Bürger der Stadt. Irgendwann kurz vor Mitternacht kam es dann immer zu einem Streit, der in eine Massenschlägerei mündete, die erst endete, wenn einige der Beteiligten sich nicht mehr regten. Manfred beschloss, die Wirtshäuser zu umgehen. Manfred war schon einige Zeit durch stille Seitenstraßen geschlendert und hatte die Beschaulichkeit der nächtlichen Stadt auf sich wirken lassen, als ihm plötzlich eine Frau entgegenkam, die er zunächst für betrunken hielt. Sie schwankte von einer Straßenseite zur anderen und redete wirr mit sich selbst. „Das ist der Tod!“ rief sie pathetisch aus, als sie Manfreds gewahr wurde. Dabei warf sie ihre Hände erst in den Himmel hinauf und deutete dann auf die hinter ihr liegende, stille Straße. Manfred sagte nichts. Er wollte nur so schnell wie möglich an dieser seltsamen Person vorbei. Man konnte schließlich nicht wissen, ob sie gefährlich war. „Er bringt sich um“, rief die Frau aus und deutete erneut hinter sich. „ER bringt IHN um!“ Jetzt verstand Manfred, dass diese Frau nicht restlos betrunken sondern vollkommen verrückt wer. Er wusste nicht zu sagen, unter welcher Art Wahnsinn sie litt, doch dass sie wahnsinnig war, war nur zu offensichtlich. Die Frau wankte direkt auf Manfred zu. Dieser war in seiner Überraschung nicht in der Lage, ihr auszuweichen. Er riss die Augen weit auf und fürchtete, die Verrückte werde nun über ihn herfallen. Er öffnete den Mund, um zu schreien, brachte allerdings lediglich ein heiseres Krächzen hervor, das schaurig in der verlassenen Gasse widerhallte. Die Frau packte ihn an den Schultern und starrte ihm mit irrem Blick ins Gesicht. „Er ist verrückt geworden“, sagte sie mit sachlicher Stimme, wie ein Arzt, der ein Attest ausstellt. „Die Bücher haben ihn verrückt gemacht.“ Manfred beeilte sich, zustimmend zu nicken. Wer wusste schließlich, was diese Frau tun würde, wenn man ihr nicht gebührend antwortete. Und Nicken war das einzige, wozu Manfred im Augenblick als Antwort fähig war. „Ich hätte es nicht tun dürfen“, erklärte die Frau. „Ich habe ihn umgebracht. ER wird IHN umbringen!“ Manfred verstand kein Wort, doch er nickte erneut. Gleichzeitig bemühte er sich, seine Schultern von der Last der Hände dieser Verrückten zu befreien. „Sie müssen ihm helfen“, forderte die Frau und schüttelte Manfred leicht. Ihre Augen hatte sie auf einen imaginären Punkt auf Manfrede Stirn geheftet. Sie blickte starr, als wollten sie direkt in Manfrede Verstand hineinsehen. „Wem?“ fragte Manfred mit belegter Stimme. Er musste hier weg, „Sylvester. Er bringt ihn um.“ Manfred schüttelte die Hände der Verrückten ab. „Wo finde ich diesen Sylvester?“ fragte er, um endlich von dieser Frau fortzukommen. „Dort. Dort.“ Mit einer unkontrollierten Bewegung wies sie auf die Straße hinter sich, die sie gekommen war. „Gehen Sie, helfen Sie ihm. ER bringt IHN um.“ Manfred machte sich eiligst aus dem Staub, während die Frau weiter die Straße entlang in Richtung auf den Hafen zu wankte. Immer wieder rief sie „Das ist der Tod!“ und „ER bringt IHN um!“ aus, ohne dass sich weiter jemand um sie geschert hätte. Als Manfred die Frau hinter sich gelassen hatte, verhielt er im Schritt und ging wieder im Schlendergang des müßigen Spaziergängers. Solche hatten sich in Massen durch die Gassen der Stadt bewegt, als der Traumlord seine Macht noch nicht errichtet hatte. Jetzt war Manfred der einzige weit und breit. Dann traf er auf den nächsten Verrückten. Ihn musste es noch schlimmer erwischt haben als die Frau, denn offenbar bemerkte er Manfred nicht einmal. Diesmal war es ein Mann. Und er hatte keine Beine. Auf den bloßen Händen kroch dieser Krüppel über die Straße wie eine riesige Raupe und murmelte leise vor sich hin. Als Manfred nahe genug heran war, verstand er einige Brocken dieses seltsamen Monologs. „Ich werde ihn erwischen“, hörte er den Mann zu sich selbst sagen. Es klang, als spreche er sich selbst Mut und Zuversicht zu. „Ich werde es schaffen, denn ich bin auserwählt. Wenn ich es nicht tue, wird seine Herrschaft ewig sein.“ Manfred stellte fest, dass auch dieser Mann verrückt war. Das Schicksal hatte ihn also zweifach geschlagen, denn er war nicht nur ein Krüppel sondern auch irrsinnig. Vielleicht hatte ihn sein körperliches Gebrechen mit den Jahren irrsinnig werden lassen. Musste es nicht letztendlich zum Wahnsinn führen, wenn man Jahr für Jahr, Tag für Tag an seinen Platz im Rollstuhl gefesselt war, nicht aus dem Haus konnte und nichts hatte als den Blick aus dem Fenster zum Hof? So musste es wohl sein, stellte Manfred fest und kehrte um. Er wandte sich von dem Krüppel ab, der wirre Reden führend über die Straße kroch und lenkte seine Schritte wieder dem Gasthof zu, wo er im Bett genügend Zeit hatte, über all die Verrückten in dieser Stadt nachzudenken.
Posted on: Mon, 01 Jul 2013 13:35:59 +0000

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