Marina Aichberger u.a.: Psychose und Migration: Wenn die Grenzen - TopicsExpress



          

Marina Aichberger u.a.: Psychose und Migration: Wenn die Grenzen (zer)fallen aus: neurologie-psychiatrie.universimed/artikel/psychose-und-migration-wenn-die-grenzen-zerfallen Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass der Prozess der Migration mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung psychotischer Störungen einhergeht. Hier werden aber auch interkulturelle Besonderheiten der Symptompräsentation diskutiert. Zur Erklärung dieses Zusammenhangs wurde eine Reihe von Hypothesen vorgeschlagen, unter denen Überlegungen zu den sozialen Realitäten von Migranten von besonderer Bedeutung zu sein scheinen. Diskriminierungserleben und Akkulturationsprobleme spielen hier eine wichtige Rolle. Migration ist als Prozess stressreich. Dabei haben einige Untersuchungen wiederholt ein erhöhtes Risiko für psychotische (vor allem schizophrene) Störungen in verschiedenen Migrantenpopulationen aufgezeigt. McGrath et al[1] fanden in einer Metaanalyse von Inzidenz- und Prävalenzstudien zur Schizophrenie der seit Anfang 1965 veröffentlichten Untersuchungen eine mediane Inzidenz der Schizophrenie von 15,2 (10%- und 90%-Quantile: 7,7–43,0) pro 100.000 (♂:♀=1,4; 10%- und 90%-Quantile: 0,9–2,4). Die mediane Lebenszeitprävalenz lag bei 4,0 (10%- und 90%-Quantile: 1,6–43,0) pro 1.000 ohne statistisch relevanten Unterschied zwischen Männern und Frauen. Für Migranten fanden sich sowohl die Inzidenz als auch die Prävalenzschätzer betreffend signifikante Unterschiede, mit einem Verhältnis der Inzidenzrate von Migranten zu Einheimischen von 4,6 (10%- und 90%- Quantile: 1,0–12,8) und einem Verhältnis von 1,8 (10%- und 90%-Quantile: 0,9–6,4) für Prävalenzraten.[1] Wie eingangs erwähnt, hat sich ein zunehmendes Interesse an der Untersuchung des Psychoserisikos in Migrantenpopulationen in den letzten drei Jahrzehnten abgezeichnet. Die ersten Untersuchungen, die auf einen Zusammenhang zwischen Migration und psychotischen Störungen hingewiesen haben, liegen beinahe ein Jahrhundert zurück. Unter diesen Untersuchungen verdient die Pionierarbeit des norwegischen Psychiaters Ødegaard besondere Aufmerksamkeit. Ødegaard konnte zeigen, dass die Rate der Erstaufnahmen aufgrund einer Psychose bei norwegischen Immigranten in den Vereinigten Staaten höher lag als die im Ursprungsland oder in der US-amerikanischen Bevölkerung.[2] Trotz einiger weiterer Untersuchungen, die ähnliche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Migration und Psychose ergaben, schwand bis in die frühen 80er-Jahre das Interesse an dieser Thematik.[3] Seither hat sich eine Vielzahl von Studien im Speziellen mit dem Auftreten von Psychosen in verschiedenen Migrantengruppen besonders in Europa beschäftigt. Eine Reihe von Metaanalysen und systematischen Reviews hat in den letzten Jahren geholfen, die bislang gezeigten Ergebnisse zusammenzuführen. Hier ergeben sich folgende spezifische Fragen: 1. Treten psychotische Störungen häufiger in bestimmten Migrantengruppen auf? Und 2. Welche zugrunde liegenden soziopsychobiologischen Mechanismen könnten hierfür verantwortlich sein? Haben Migrantengruppen ein erhöhtes Risiko? Eine metaanalytische Zusammenfassung der Ergebnisse zu Schizophrenie bis 2006 finden sich in zwei Arbeiten von Cantor-Graae & Selten und Selten bzw. Cantor-Graae & Kahn.[3, 4] So fanden die Autoren in der ersten Metaanalyse, in die Studien aus aller Welt eingeschlossen wurden, dass das mittlere relative Risiko für Migranten mit 2,9 (95% Konfidenzintervall [KI]=2,5–3,4) erhöht war. Dabei fanden sie für Migranten der ersten Generation (also Personen, die selbst migriert waren) ein mittleres relatives Risiko von 2,7 (95% KI=2,3–3,2) und für Migranten der zweiten Generation sogar von 4,5 (95% KI=1,5–13,1). Einen Unterschied zwischen Männern und Frauen fanden die Autoren nicht. Cantor-Graae et al untersuchten darüber hinaus den Zusammenhang zwischen ökonomischer Situation des Ursprungslandes und dem Einfluss der Hautfarbe der Personen auf das Psychoserisiko. Die Ergebnisse wiesen darauf hin, dass Personen aus Ländern Osteuropas und Entwicklungsländern mit hohen bis mittlerem Einkommensniveau (RR=3,6; 95% KI=3,0–4,4) ein höheres Risiko für die Entwicklung einer Schizophrenie hatten. Dunkle Hautfarbe war mit einem relativen Risiko von 4,8 (95% KI=3,7–6,2) mit dem höchsten Schizophrenierisiko assoziiert. Die Autoren schlossen aus den Ergebnissen, dass der Zusammenhang zwischen Migration und Schizophrenie Ursachen im Bereich sozialer Einflussfaktoren haben könnte, die auch für andere Gruppen von Migranten von Bedeutung sein könnten.[3] Andere Einflüsse Neben bekannten Risikofaktoren für Psychoseentwicklung wie etwa dem Konsum von Cannabis und einer erhöhten genetischen Vulnerabilität werden eine Reihe weiterer Faktoren für das erhöhte Auftreten von psychotischen Störungen, insbesondere der Schizophrenie, in verschiedenen Migrantengruppen diskutiert. Lange Zeit wurde überlegt, ob die höhere Prävalenz bei Migranten auf eine selektive Migration besonders vulnerabler Personen zurückzuführen sein könnte.[6] Diese sogenannte Selektionshypothese, welche von dem eingangs erwähnten Pionier in diesem Forschungsfeld, Ødegaard, postuliert wurde, galt lange als das beste Erklärungsmodell.[4] Seit Ende der 70er-Jahre haben jedoch einige Untersuchungen Hinweise darauf geliefert, welche diese Hypothese widerlegen könnten. So fanden Selten et al in einer Untersuchung der einheimischen Bevölkerung in Surinam Inzidenzraten der Schizophrenie, die mit denen der einheimischen Bevölkerung in den Niederlanden vergleichbar waren, wobei Immigranten aus Surinam in den Niederlanden ein etwa 3-fach erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Schizophrenie aufwiesen.[7] Darüber hinaus kann die Selektionshypothese nur eingeschränkt die ebenfalls erhöhten Raten für psychotische Störungen bei Migranten der zweiten Generation erklären.[3, 5] Immer wieder wurde überlegt, ob Fehlklassifikationen einen Teil der erhöhten Raten psychotischer Störungen in Migrantengruppen erklären könnten.[8] Ein gewisses Maß an Diagnosebias vonseiten des Diagnostikers sowie falsche Interpretationen kulturspezifischer Phänomene, die keinen eigentlichen Krankheitswert haben, sind hier nicht ganz auszuschließen. Andererseits haben Studien in diesem Feld durch den Einsatz von strukturierten Interviews und durch zusätzliche Kontrolle der Diagnosen durch geblindete Rater, die die gleiche Herkunft wie die Patienten hatten, diesen Fehler minimiert.[5] Soziale Determinanten Als mögliche soziale Determinanten werden insbesondere soziale Benachteiligung und Diskriminierung,[9, 10] Kohäsion der ethnischen Gruppen und Erfahrungen sozialer Niederlage (=social defeat) diskutiert.[3, 4, 5] Einen Hinweis auf den möglichen Einfluss von sozialer Benachteiligung liefert eine Reihe von Untersuchungen aus Großbritannien und den Niederlanden, die mit zunehmender Konsistenz zeigen, dass die Gruppen, die das größte Risiko für psychotische Störungen zeigen, insbesondere die Migrantengruppen sind, die einer Reihe von Benachteiligungen und sozialen Belastungen ausgesetzt sind.[11, 12, 13, 14] Der nachteilige Einfluss von Diskriminierungserfahrungen könnte unter anderem auch das von Cantor-Graae & Selten berichtete erhöhte Risiko von Personen dunkler Hautfarbe erklären, welche häufiger Anfeindungen ausgesetzt sein könnten.[3] Vorstellbar wäre, dass andauernde Diskriminierungserfahrungen hier einen als paranoid beschriebenen Attribuierungsstil begünstigen. Risikogruppen Die Ergebnisse aus den genannten Untersuchungen weisen darauf hin, dass das Risiko für psychotische Störungen nicht für alle Migrantengruppen gleich hoch ist. In Großbritannien zeigte jüngst eine Untersuchung zwar ein größeres Risiko für Psychosen in verschiedenen Migrantengruppen, darunter auch Einwanderer aus Ländern wie Australien und Irland, jedoch variierten die Risiken stark abhängig von der Herkunftsregion.[12] So zeigten karibische Einwanderer („black Caribbeans“) erster und zweiter Generation das größte Risiko, gefolgt von Einwanderern aus verschiedenen Teilen Afrikas.[12, 15, 16] Weiterhin fand sich in Großbritannien ein erhöhtes Risiko bei Frauen aus Asien, jedoch nicht für Männer.[12] In den Niederlanden zeigte sich zwar ein größeres Risiko bei Migranten aus Surinam und Marokko, jedoch kein erhöhtes Risiko bei Einwanderern aus der Türkei.[7] Auf die Besonderheiten des Risikos von Migrantengruppen in verschiedenen europäischen Länden wird in Zukunft nicht nur in Studien, sondern auch in der Versorgung geachtet werden müssen. Weiterführende Studien zu den Faktoren, die dem erhöhten Risiko für psychotische Störungen in Migrantenpopulationen zugrunde liegen, sind nötig, um die Versorgung und die therapeutischen Strategien entsprechend anzupassen. Referenzen: [1] McGrath J et al, Epidemiologic Reviews 2008; 30: 67-76 [2] Ødegaard Ø, Acta Psychiatrica Neurologica Scandinavica Supplement 1932; 4:1-206 [3] Cantor-Graae E et al, American Journal of Psychiatry 2005; 162(1): 12-24 [4] Selten JP et al, Current Opinion in Psychiatry 2007; 20(2): 111-5 [5] Pinto R et al, Br J Gen Pract. 2008; 58(551): 429-34 [6] Selten JP et al, American Journal of Psychiatry 2002; 159(4): 669-71 [7] Selten JP et al, British Journal of Psychiatry 2001; 178: 367-72 [8] Hutchinson G et al, Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2004; 39(5): 350-7 [9] Karlson et al, Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2005; 40(6): 509 [10] Veling W et al, International Journal of Epidemiology 2007; 36 (4): 761-8 [11] Bhugra D et al, Psychological Medicine 1997; 27(4): 791-8 [12] Coid JW et al, Archives of General Psychiatry 2008; 65(11): 1250-8 [13] Morgan C et al, Acta Psychiatrica Scandinavica 2009; 119(3): 226-35 [14] Veling W et al, Schizophr Res 2006 Sep; 86(1-3): 189-93. Epub 2006 Jul 12 [15] Van OS J et al, Psychological Medicine 1996; 26(1): 203-8 [16] Kirkbride JB et al, British Journal of Psychiatry 2008; 193(1): 18-24
Posted on: Thu, 26 Sep 2013 14:23:54 +0000

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