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… diplomierten Lakaien der Pfafferei … Philosophenstaat und Philosophenschiff KLEIN Ursprünglich wurde der Obelisk im Moskauer Alexandergarten, direkt an der Kremlmauer, zur Feier des 300jährigen Bestehens der Romanowdynastie im Jahre 1913 errichtet. 1918 stürzten die Bolschewiki den krönenden doppelköpfigen Zarenadler, die Namen der Zaren wurden durch jene von Utopisten, echten und vermeintlichen Sozialisten ersetzt. ZITAT: Heraklit, Aristoteles, Thomas Morus, Campanella, Saint-Simon, Robert Owen, Fourier, Proudhon, August Bebel KLEIN: Natürlich durften auch die russischen Vertreter der fortschrittlichen Menschheit - Tschernyschewskij und Plechanow - nicht fehlen. Vermutlich gab es kein Staatswesen, das mit derart pompöser Legitimationsstrategien auftrat wie das Sowjetsystem: Der Obelisk war dabei noch ein harmloses Denkmal – mit dem sich das junge Sowjetsystem als eine Art Philosophenstaat ausgab. Durch die Oktoberrevolution war der Traum von einer befreiten Menschheit - fast - schon Wirklichkeit geworden. Alles was gerade noch „Fortschritt“ geheißen hatte, folgte jetzt den ehernen Gesetzen der Geschichte. Der Weltgeist war in Russland angekommen. Mit dem Schlagwort „wissenschaftlicher Sozialismus“ war eine Art höherer Weisheit gewonnen mit – später wurden daraus: „Histomat“ und „Diamat“ - Historischer und Dialektischer Materialismus. Erste Personifizierung dieser Esoterik war - LENIN. Sein Geist hatte die Welt revolutioniert – zum Zeichen der Verehrung wurde sein Konterfei in ganze Berge geschlagen! Als sollte LENIN die Rolle des Berufsrevolutionärs und Politikers nicht genügen, trat er – der permanent ohnedies ein kolossales Arbeitspensum erledigte, mehrfach auch in der Rolle des Philosophen auf. LENINS Auseinandersetzungen mit Intelligenzija seiner Zeit war gnadenlos polemisch: seine Gegner waren bestenfalls „Lakaien“ oder „Bütteln der Bourgeoise“. Vor allem zwei Auftritte des – nach Eigendefinition - „philosophischen Suchers“ waren bemerkenswert: Genau vor einhundert Jahren, 1909, erschien die Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Kommentare zu einer reaktionären Philosophie“ – eine äußerst voluminöse und spröde Polemik in Sachen Erkenntnistheorie, Dialektik und Wissenschaftstheorie. Deren Funktion definierten spätere sowjetische Ausgaben folgendermaßen: das Buch sollte „Parteimitgliedern und Parteiaktivisten sowie fortschrittlichen Arbeitern dabei helfen, den dialektischen und historischen Materialismus zu beherrschen.“ Tatsächlich war es aber nicht das Handbüchlein, anhand dessen jeder Homo Sovieticus zum Philosophen wurde, sondern die Grundlage für die spätere Verfolgung von Mathematik, Biologie oder Kybernetik. KLEIN: Der russisch Philosoph Nikolaj Berdjajew, einstiger Marxist, später Idealist und Monarchist, ein vielfacher Gegenspieler von Lenin, erklärte die philosophische Verbrämung des politischen Handelns der Kommunisten folgendermaßen: ZITAT: „In Russland wurde der Wissenschaftliche Positivismus – wie alles Westliche –auf radikalste Weise ausgelegt und nicht nur in eine primitive Metaphysik verwandelt, sondern auch in eine besondere Religion, die alle bisherigen Religionen ersetzen sollte. KLEIN: Das Problem, so Berdjajew, sei nicht der Kommunismus, sondern der Kommunismus, der – unter der Maske der Wissenschat - in den Rang einer Religion erhoben wurde. Das Ganze wäre ohne Oktoberrevolution folgenlos geblieben - mit realer Macht ausgestattet, zeigte der Sowjetmarxismus bald sein wahres Gesicht. Lenins späte - aus dem Jahr 1922 stammende - kleine Schrift „Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus“ gilt als Startschuss für die Verfolgung der führenden Köpfe des Landes. Genauer gesagt – für deren Deportation außer Landes. In Russland ist die Episode mit großer Symbolkraft unter der Bezeichnung „Philosophenschiff“ bekannt. Zeitgeschichtlicher Hintergrund ist die ökonomische Misere des Kriegskommunismus; in der Neuen Ökonomischen Politik wird das Privateigentum wieder eingeführt; trotz kürzlicher gewaltsamer Niederschlagung von Matrosen- und Arbeiteraufständen üben Ärzte, Pädagogen, Agronomen und Ökonomen heftige Kritik an der bolschewistischen Regierung. Lenin fällt sogleich in gewohnter, harscher Manier über die Intelligenzija her: die „diplomierten Lakaien der Pfafferei“ taugten nicht mehr zur Aufklärung der Jugend als „notorische Kinderschänder in der Rolle von Erziehern.“ Gemeint sind damit die nichtmarxistischen Universitäts-Philosophen, die aus ihre Ablehnung des Systems kein Hehl machen. (Ein klassischer Vorwurf, der schon gegen Sokrates erhoben wurde!) Lenin betreibt dabei klassischen doubble-speech. Der streitbare Masterialist erklärt: ZITAT „Jedenfalls gibt es bei uns in Russland noch Materialisten aus dem Lager der Nichtkommunisten – und es wird sie zweifellos noch ziemlich lange geben –, und unsere unbedingte Pflicht ist es, alle Anhänger des konsequenten und streitbaren Materialismus im Kampf gegen die philosophische Reaktion und gegen die philosophischen Vorurteile der so genannten „gebildeten Gesellschaft“ zu gemeinsamer Arbeit heranzuziehen.“ KLEIN An das Politbüro schreibt er zur selben Zeit – weniger philosophisch, aber umso deutlicher: ZITAT “Je mehr Vertreter des reaktionären Priesterstandes und der reaktionären Bourgeoisie an die Wand gestellt werden, desto besser für uns.“ KLEIN: Tatsächlich geht es jetzt Schlag auf Schlag: Lenin wendet sich - (nebenbei nur wenige Tage vor jenem Schlaganfall, von der er sich nicht mehr erholen sollte) – Lenin wendet sich an den Chef der Staatssicherheit Dszerschinksij: der möge die Deportation vorbereiten. Die Listen der zu Abzuschiebenden werden zusammengestellt, im Sommer 1922 werden die Professoren der Reihe nach verhaftet und verhört; begleitet wird das Ganze von einer Kampagne in der PRAWDA. Am 29. September 1922 verlassen Nikolaj Berdjajew, Semjon Frank, Iwan Iljin, Sergej Trubetzkoj, Nikolaj Losskij, Lew Karsawin - um nur die bekanntesten Philosophen zu nennen, das Land. Insgesamt sind es 225 Personen: darunter Ärzte, Pädagogen, Agronomen, Schriftsteller, Juristen, Politiker, Theologen und einige Studenten - die auf den deutschen Passagierschiffen „Oberbürgermeister Haken“ und „Preussen“ von Petrograd nach Stettin verfrachtet werden. Eine weitere Fuhre geht von Odessa nach Stambul ab – im Dezember 1922 folgen 30 oppositionelle Georgier per Eisenbahn nach Deutschland. Einer der Ausgewiesenen – der Philosoph Fjodor Stepun - meinte später: ZITAT: „Die russische Intelligenzija war nach dem Bürgerkrieg eigentlich loyal gegenüber der Sowjetmacht. Den Bolschewiki genügte das nicht. Sie verlangten nicht nur die Anerkennung ihrer realen Macht, darüber hinaus forderten sie die innere, vollständige Anerkennung; die Anerkennung ihrer Macht als Wahrheit und als das einzig Gute auf Erden.“ KLEIN Die kaltschnäuzige Reaktionen auf das Philosophenschiff aus dem Mund von Leo Trotzki verwundert denn auch nicht weiter – schließlich erfolgte der Terror im Namen des Guten am Vorabend der offiziellen Gründung der UDSSR. Trotzkij gab einem amerikanischen Journalisten die Antwort: ZITAT „Wir haben diese Leute ausgebürgert, da es keinen Grund gab, sie zu erschießen - sie länger zu ertragen, war aber auch nicht möglich (…) Ich hoffe, Sie sind imstande, unser Humanität anzuerkennen.“ KLEIN: Mag die Anerkennung dieser „Humanität der Bolschewiki“ auch schwer fallen – es kam später noch weitaus schlimmer, schließlich wurde auch Trotzki selbst im Auftrag Stalins erschlagen. Leo Trotzki hat sich aber immerhin - im Unterschied zum Großteil der marxistischen Autoren - NICHT geweigert, die befreite Gesellschaft auch zu beschreiben. In der zu genau jener Zeit entstandenen Schrift Die Kunst der Revolution und die sozialistische Kunst“ (veröffentlicht 1923) wird er, was das PARADIES AUF ERDEN betrifft, recht deutlich: in Reich der vollendeten Freiheit würden nicht nur massenhaft neue Gartenstädte, Musterhäuser, Mustereisenbahnen und Musterhäfen gebaut; es würden nicht nur die Grenzen zwischen Kunst und Industrie fallen. Der nicht mehr entfremdete neue Mensch – nietzscheanische rote Bauern und rote Arbeiter – werde auch die Grenze zwischen Natur und Kunst aufheben. Mit „Kunst“ sind hier nicht einfach Bilder an der Wand gemeint.Und es verwundert nicht, dass er zur Illustration des roten ÜBERMENSCHEN schließlich zum Bild des Philosophen greift: ZITAT „Der kommunistische Alltag wird nicht –wie Korallenriffe – blindlings wachsen, sondern wird bewusst errichtet, durch das Denken überprüft, gelenkt und korrigiert werden. (…)Der Mensch, der Berge und Flüsse zu versetzen und Volkspaläste auf dem Gipfel des Mont Blanc und auf dem Grund des Atlantik zu errichten lernt, wird seine Alltag natürlich nicht nur mit Reichtum, Leuchtkraft und Spannung versehen, sondern ihm auch höchste Dynamik verleihen können. (…) Der durchschnittliche Menschentyp wird sich zum Niveau eines Aristoteles, Goethe und Marx emporschwingen.“ KLEIN: Bekanntlich endet das experimentum mundi des Kommunismus - zuerst in einem Blutbad – und später, ohne dass es jemand vorhergeahnt hätte im – Nichts. Der „durchschnittliche Menschentyp“ hatte dabei einige Mühen, den Alltag zu überleben. Bleiben nur noch die Frage: Was hatte gerade eine Reihe prominenter Philosophen des 20. Jahrhunderts am kommunistischen Experiment interessiert? Um nur einige zu nennen: Bertrand Russel reist in den frühen 1920er Jahren nach Moskau, der „linke Außenseiter“ Walter Benjamin 1926/27, Otto Neurath in den frühen 1930ern; Ludwig Wittgenstein wäre Mitte der 30er fast ins Zentrum von Stalins Terror emigriert: und sie wenden sich alle rasch vom kommunistischen Experiment wieder ab. Von Sartre oder Merleau-Ponty ganz zu schweigen! Und selbst Kommunismus-unverdächtige Denker wie Jacques Derrida oder Richard Rorty sinnieren am Ende des 20. Jahrhunderts dem Projekt noch nach, als das das Ende dieser Geschichte schon längst Realität geworden war. Auf die Richtigkeit der weit unterschätzten Fukujama-These vom Ende der Geschichte hat zuletzt (der Modephilosoph) Slavoj Zizek hingewiesen. Der philosophische Liberalismus war in den 1990er Jahren tatsächlich überzeugt, dass die Welt keine substanzielle Ideologie mehr brauche. „Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin“ ist der provokante Titel eines neuern Buches von Zizek. Die Umkehrung von Marxens 11. Feuerbach-These: „Die Philosophen haben die Welt immer nur interpretiert – es kömmt darauf an, sie zu verändern“ – die Verkehrung der These zur Aufforderung: - die Welt doch endlich zu verschonen – wird jedenfalls keine ausreichende Antwort sein. Nicht einmal, wenn das Gerücht stimmt, dass in Moskau - zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion - das Denkmal für Karl Marx gestürzt und durch Putin ersetzt wird.
Posted on: Tue, 02 Jul 2013 14:02:22 +0000

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