Die Nacht des Lebendigen weicht vor der Helligkeit des - TopicsExpress



          

Die Nacht des Lebendigen weicht vor der Helligkeit des Todes Über den Splatterfilm als postmodernes Theater der Grausamkeit Der Körper des Verurteilten und der pathologische Körper Leben wir in einer Gesellschaft, die den körperlichen Horror und das Spektakel ausschließt und gegen Disziplin und Überwachung eingetauscht hat? Der französische Philosoph Michel Foucault geht von einer solchen Verschiebung im Diskurs z. B. bei der Strafgewalt aus. Wie Steffen Hantke bemerkt, findet man eine der härtesten Horrorszenen nicht in einem Film des gegenwärtig boomenden Slashergenres (z. B. Scream, USA 1996), sondern auf den ersten Seiten von Foucaults Überwachen und Strafen: »Am 2. März 1757 war Damiens dazu verurteilt worden, vor dem Haupttor der Kirche von Paris öffentliche Abbitte zu tun«, wohin er »in einem Stützkarren gefahren werden sollte, nackt bis auf ein Hemd und eine brennende zwei Pfund schwere Wachsfackel in der Hand; auf dem Grève-Platz sollte er dann in Stürzkarren auf einem dort errichteten Gerüst an Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glühenden Zangen gezwickt werden; [...]« (Foucault 1994, 9) Was hier so scheinbar harmlos beginnt, breitet Foucault anhand von authentischen Dokumenten über den Vatermörder Damien dreieinhalb Seiten lang minutiös aus. Kein Detail wird von ihm ausgespart: Zwicken mit Zangen, siedendes Öl in den Wunden, eine Vierteilung, die Verbrennung des Körpers. In der Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Marter ein öffentliches Spektakel, ein »Theater der Hölle« (Foucault), in dem der zergliederte Körper des Verurteilten die Wahrheit des Verbrechens anzeigen soll. In einer Politik des Schreckens, die sich exemplarisch am Körper des Übeltäters entfesselte, wurde die Präsenz und die Macht des Souveräns materiell spürbar gemacht und wiederhergestellt. Foucault kontrastiert dieses Bild mit dem Reglement eines Gefängnisses des 19. Jahrhunderts: »Art. 17. Der Tag der Häftlinge beginnt im Winter um sechs Uhr morgens, im Sommer um fünf Uhr. Zwei Stunden sind jeden Tag dem Unterricht gewidmet. Die Arbeit und der Tag enden im Winter um neun Uhr, im Sommer um acht Uhr.« (Foucault 1994, 12) Deutlich hat sich der Umgang mit dem Leib des Verurteilten verändert. Die Bestrafung erfolgt nicht mehr durch ein Spektakel, bei dem die Inszenierung auch durch – nicht erwartungsgemäß mitspielende – Faktoren wie das Publikum, den Übeltäter usw. gefährdet sein kann, sondern durch eine strenge Planung. Die Körper der Häftlinge werden nicht zergliedert und demontiert, sondern diese müssen sich einem strikten Raum-, Zeit- und Ordnungsplan unterwerfen. Der verwundete, geschundene Körper der Marter verschwindet, an seine Stelle tritt der disziplinierte Körper des Delinquenten, der das vorwegnimmt, was Foucault als Alptraum der Disziplinargesellschaft beschwört. Zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzieht sich Foucault zufolge allerdings noch ein weiterer folgenreicher Einschnitt im Diskurs der Humanwissenschaften: Die Geburt der klinischen Medizin. Die Aufklärung und mit ihr die moderne Pathologie bringen den Tod ans Tageslicht: »Die Nacht des Lebendigen weicht vor der Helligkeit des Todes.« (Foucault 1999, 161) Leichen, die man zuvor mit Ekel, Fäulnis und Zersetzung in Verbindung brachte und die man heimlich nachts auf den Friedhöfen vergrub, werden von Bichat aus der Dunkelheit gezerrt. Im medizinischen Diskurs wird der tote Körper zum Ort der Wahrheit, der die Funktionsweise des Organismus und die Krankheit ans Tageslicht bringen soll. Nach dem Tod Gottes und der Erfahrung der Endlichkeit des Menschen transformiert der Tod zum Ausgangspunkt der individuellen Erkenntnis. Mit der Domestikation und Zähmung des Todes durch die Humanwissenschaften und der unsichtbaren Bestrafung und Disziplinierung der Körper von Delinquenten durch das Kerkersystem scheint die öffentliche Zurschaustellung von geschundenen und zergliederten Leibern in einem unkontrollierten Ausbruch von Gewalt gebändigt zu sein. Doch in den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts flimmern die Szenen der Grausamkeit tagtäglich wieder über die Fernsehbildschirme von europäischen und nord-amerikanischen Haushalten.
Posted on: Sun, 30 Jun 2013 22:15:05 +0000

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