Eine Seite aus meinem Roman "Walt - Im Schatten des Nangar Parbat" - TopicsExpress



          

Eine Seite aus meinem Roman "Walt - Im Schatten des Nangar Parbat" Ort: Srinagar, Kaschmir. Craig (der Amerikaner) rotiert noch eine Weile, schnaubt, und endlich geht es weiter. Und während er mit seiner Kamera von Motiv zu Motiv kreuz und quer über die Straße springt, widmet sich Walt einer pompösen Reklametafel am Straßenrand. Unter dem Bild des grimmigen Antlitzes des obersten Rechtsgelehrten im Iran ist zu lesen: Wir fürchten weder den Osten noch den Westen, unsere Zuflucht ist Allah. Dieser Spruch begleitet ihn ein Stück, und rasch hat er beide Seiten gegenübergestellt. Und was kam dabei heraus?, erkundige ich mich, da er seine Erzählung an dieser Stelle jäh abgebrochen hat. Sekunde, antwortet er, um mit sich zu Rate zu gehen. Was ihn beschäftigt, ist die Frage, ob er mir und in Folge Euch davon berichten soll, da in dieser Schrift der Raum für eine Gegenüberstellung von Ost und West, dann Mann und Frau etc. möglicherweise nicht gegeben ist; doch ich höre es mir an, notiere und befürworte, es aufzunehmen, wenngleich es unseren Blick aus Srinagar weit hinausführen wird. Demzufolge lesen wir: Unter Muslimen ist letztlich dank Salman Rushdie, der auf die verbannten oder satanischen Verse vorislamischer Zeit hinwies, hinreichend bekannt, dass das männliche Prinzip, wie es im Koran streng und mächtig zutage tritt, mit dem weiblichen Prinzip nicht in Widerspruch stehen darf. Und wenn er seine eigene früheste Vergangenheit nicht verleugnet, ist das auch dem weniger belesene Muslim durch Instinkt bekannt, war er doch wie der erste, sofern es sich um zwei männliche Exemplare handelt, anfangs eine Samenzelle, die der Mann auf eine Reise schickt, indem er den weiblichen Körper öffnet, in ihn eindringt und seinen Samen in die weibliche Vagina ergießt. Jeder Mensch versteht, dass das männliche Prinzip am Anfang des Daseins bedeutet, im Schwarm von vielen Samenzellen im Wettkampf bis zur Eizelle vorzudringen, in sie einzudringen und mit ihr zu verschmelzen. Freilich wird es höchstens eine Samenzelle schaffen, während alle anderen absterben (siehe Craig). Beim männlichen Prinzip stehen also Wettkampf, Konkurrenz und vor allem Zielorientierung im Zentrum. Das männliche Prinzip bedeutet, aktiv auf etwas zuzugehen, vorzustoßen und etwas zu erreichen. Es bedeutet auch in neues, unbekanntes Terrain vorzustoßen. Damit eine Samenzelle das Ziel erreicht, wird das Sterben vieler anderer Samenzellen in Kauf genommen. Das Männliche spürt sich durch Konkurrenz, Kampf und Sieg. Die Bedeutung von Kampf oder Wettbewerb sollten wir nicht unterschätzen. Er ist für das männliche Prinzip existentiell. Dabei kann es auch ruhig etwas rauer zugehen. Für europäische Frauen des 19. Jahrhunderts war es ebenso natürlich wie für muslimische Frauen dieser Tage, dem männlichen Prinzip das weibliche nebenherzustellen, indem sie etwa Virginia Wolff lasen, insbesondere To the Lighthouse (Zum Leuchtturm), wo beide Prinzipien zu ihrem Recht gelangen: das männliche Über-Ich mit wegweisender Beständigkeit oder als Platz fester Normen und Wertevorstellungen und das sich ständig wandelnde „weibliche Meer“, das ozeanische Ich, das für die Urkraft sowohl für den unterbewussten Fluss der Dinge wie für Versorgung, Harmonie und Erhalt sorgt. Das weibliche Prinzip besteht also darin, sich zu öffnen, erst den männlichen Penis und dann den Samen aufzunehmen, mit ihm zu verschmelzen, indem die Eizelle sich den Samen einverleibt, und dann dieses durch Samen und Eizelle neu entstandene Leben aktiv zu nähren und ununterbrochen zu versorgen. Dabei ist es nicht unbedingt der erste, schnellste Samen, der in die Eizelle eindringt. Viele der Samenzellen, die es überhaupt bis zur Eizelle geschafft haben, umringen die rund hundertmal größere Eizelle und versuchen durch ihre Membran in sie einzudringen. Ähnlich umrundete der Mensch das Lagerfeuer, oder er kreist heute noch um das höchste Heiligtum in Mekka. Das Weibliche gibt ihm dafür Raum und Zeit. Dieses Gewähren von Raum und Zeit ebenso wie das permanente Zuführen von Energie in Form von Nährstoffen ermöglicht Transformation im Sinne Walts Forderung Kult in Kultur, dessen Richtung die Tiefe ist. Das weibliche Prinzip besteht neben dem Öffnen, Aufnehmen und Verschmelzen darin, einen natürlichen Rahmen zu bieten, in dem Menschen, Dinge, Prozesse sich kulturell entwickeln und entfalten können und zusätzlich mit weiblicher Energie versorgt werden. Dieses, wie Walt es nennt, eigentliche Modell der Polarität der Geschlechter macht deutlich, dass diese Prinzipien sich bei Mann und Frau unterschiedlich zeigen, was einerseits die Unterschiede zwischen Mann und Frau ausmacht, andererseits zu einer gegenseitigen Anziehung führt. Damit sollte verständlich werden, warum Walt am Straßenrand, durch die Reklametafel an die Gegensätze von Ost und West erinnert, im heutigen Osten noch vornehmlich das männliche und im heutigen Westen vornehmlich das weibliche Prinzip anzutreffen meint, wozu er schließlich auch Krieg versus Kalter Krieg, Autokratie versus Demokratie, Fokus versus Zerstreuung, Ordnung versus Chaos, Religiosität versus Materialismus, Mythos versus Wissenschaft, Liberalismus versus Fundamentalismus und nicht zuletzt Vielheit versus Einheit in ihnen zu verorten meint. Jedenfalls leuchtet mir jetzt, da ich mir den Krampf aus meiner Schreibhand schüttle, ein, welche Art Erholung Walt am Gut und dann hier in Kaschmir zu finden hofft: Erholung von sich selbst, Erholung von seinem ermüdenden gleichsam unermüdlichen Gedankenstrom oder, wie Robert Musil rufen würde: Raus aus dem Zusammenhang der DINGE! Folgen Sie mir!, unterbricht ihn Haris Stimme, wie der Inder vom Hausboot heißt. Ich bringe Sie in mein Dorf. Sie sollen sehen, WIE es sich bei uns lebt.
Posted on: Sat, 29 Jun 2013 09:19:24 +0000

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