Hallo, Freunde. Hier habe ich für euch zum Probelesen die beiden - TopicsExpress



          

Hallo, Freunde. Hier habe ich für euch zum Probelesen die beiden ersten Kapitel meiner Geschichte JENSEITS DER SPIEGELWELT. Ich wünsche euch viel Spaß. KAPITEL 1 SILVER SUMMER Einige Menschen fieberten der Sache entgegen, weil sie ihre Stärke und ihren Mut beweisen wollten und außerdem gerne herausfinden wollten, ob an diesen Gerüchten, die es darüber gab, etwas dran ist. Aber die meisten Leute mieden den Jahrmarkt, der jedes Jahr in der kleinen, verschlafenen Stadt Lantyan mitten in den Bergen von Colorado seine Pforten öffnete. Auf ihm würde ein Fluch lasten, hieß es. Jeder, der auch nur ein Fahrgeschäft besuchte, ein Los kaufte oder an der Eistheke ein Eis bestellte, sei verflucht für den Rest seines Lebens. Nur ein paar Wagemutige besuchten den Rummelplatz jedes Jahr. Und so kam es auch, dass seine Geschäfte immer schlechter liefen. Der „Silver Summer“ war auch so das Einzige, was der Ort Lantyan zu bieten hatte. Sonst war es hier immer trostlos. Es gab nur ein paar Geschäfte, ein kleines Einkaufszentrum, ein Hotel, das meistens leer stand – und ein Internat. Es war etwa ein bis zwei Kilometer vom Stadtkern entfernt auf einer Anhöhe und bot Platz für knapp hundert Schüler und Schülerinnen, die hier eine besonders strenge aber gute Erziehung genossen. Meist waren sie aus reichen Familien, aber hin und wieder wurden auch Waisenkinder aufgenommen, deren Unterkunft der Staat bezahlte. Die ganzen Jungs und Mädchen aus dem Internat – keiner von ihnen traute sich, den „Silver Summer“ zu besuchen… außer einem 15-jährigen Schüler. Rom Malumba war ein Außenseiter, ein Einzelgänger, der von allen gemieden wurde, und der alle mied. Er war der unbeliebteste Junge der Schule. Die meiste Zeit verbrachte er damit, auf dem Bett zu liegen und zu träumen. Weil er keine Eltern und keine Freunde hatte, war das das Einzige, was er besaß. Er dachte sich dann immer Geschichten aus – mal schön, mal gruselig und spannend, mal herzzerreißend – und immer mit ihm mittendrin. Heute, an einem schönen Sommertag im Jahr 1983, war es wieder soweit. Der Jahrmarkt, vor dem die meisten Angst hatten, hatte seine Zelte aufgebaut und machte seine Fahrgeschäfte auf. Rom, der sich schon am Mittag nach dem Unterricht heimlich aus dem Staub gemacht hatte, stand vor dem Spiegelkabinett und wartete, bis die kleine Kasse das Fenster öffnete. Als dann einer da war, kaufte er eine Karte. „So, du bist wieder hier“, sagte der Betreiber, der Rom offenbar kannte. „Du traust dich jedes Jahr.“ „Ich bin auch immer wieder raus gekommen“, antwortete Rom. „Ich habe jedes Mal den Weg nach draußen wieder gefunden.“ „Nun, dieses Jahr ist es noch schwieriger“, meinte der Mann. „Ich weiß“, sagte Rom. „Aber ich will es versuchen.“ Der Mann gab ihm die Karte und ließ den Jungen dann hinein in das Spiegelkabinett. Rom wusste, was zu tun war. Er kannte die Bilder schon, die er in den Spiegeln sah. Er wusste auch, dass das nicht einfach Bilder waren. Er als Einziger wusste, wie die Bilder entstanden sind. Und als er vor einem bestimmten Spiegel stand, wünschte er sich leise, nie wieder von seinen Mitschülern gehänselt zu werden, nie wieder der Schwache zu sein, nie wieder auf sich herumreiten zu lassen von Kindern, die zweimal kleiner waren als er. Er wünschte sich weg, weit, weit weg. An jenem Tag ging Rom zum allerletzten Mal in das Spiegelkabinett. Als er auch nach zwei Stunden noch nicht herauskam, begannen die Betreiber, nach ihm zu suchen. Später wurde auch die Polizei eingeschaltet. Das ganze Fahrgeschäft wurde auseinander genommen. Aber als man ihn noch immer nicht fand, suchte man auch den Rest des Jahrmarkts ab. Rom blieb verschwunden. Am Tag darauf suchte die Polizei den halben Ort ab, aber Rom wurde nirgendwo gefunden. Inzwischen ging man von einem Verbrechen aus, aber es gab weder Indizien noch Anhaltspunkte. Irgendwann ein paar Tage später fand man seine Kleidung unter den abgebauten Bestand-teilen des Spiegelkabinetts. Daraufhin stellte die Polizei die Suche ein, und obwohl man seinen Körper nirgends fand, wurde Rom Malumba für tot erklärt. In jenem Jahr hatte der Jahrmarkt zum letzten Mal seine Pforten geöffnet. Aufgrund jenes Vorfalls wurde er nicht mehr besucht und ging Pleite. Die Betreiber verteilten sich in alle Winde, und der „Silver Summer“ kam nie wieder nach Lantyan. Aber das Internat, in dem der Waisenjunge Rom wohnte, das existierte weiter. Alte Schüler gingen, neue kamen, und irgendwann hatte man Roms mysteriösen Tod vergessen. Auch dass es hier mal einen jährlichen Rommelplatz gab wurde immer mehr verdrängt. Und dreißig Jahre nachdem dies geschah wusste nicht mal einer mehr im Ort, dass es einen Rom Malumba je gegeben hat. Rom Malimba, der Einzelgänger und Außenseiter – er war der tapferste Junge im ganzen Ort, vielleicht sogar im ganzen Land. Aber niemand wusste das. Niemand außer ihm selbst, wo immer er jetzt sein mochte. Was immer er jetzt machen mochte, wenn es ihn noch geben würde. Wenn er nicht tot war. Und das war er nicht. KAPITEL 2 DER KRIEG DER CLIQUEN Draußen wurde es langsam ruhig. Die Sonne verschwand hinter den Hügeln, und während die Abenddämmerung sich breit machte, verstummten auch langsam die Gesänge der Vögel. Und auf den Feldern kamen die kleinen Glühwürmchen hervor und tanzten ihre Tänze. Die meisten Schülerinnen und Schüler des Internats Lantyan waren jetzt bereits in ihren Quartieren. Sie lasen, schauten Fernsehen oder spielten mit ihrem Nintendo 3DS, wenn sie einen hatten. Manche lernten noch für den nächsten Tag oder machten noch Hausaufgaben, weil sie diese über den Tag noch nicht gemacht hatten. Einige Wenige liefen noch auf dem großen Schulhof herum, saßen an der Bank, die sich um die dicke Tanne inmitten des Hofs schlängelte und rauchten heimlich eine Zigarette. Und wieder andere spielten noch Fußball. Aber in den meisten Zimmern war das Licht bereits an. Das Internat Lantyan war gefürchtet und beliebt zugleich im ganzen Land. Es lag in der Nähe der kleinen Stadt Lantyan in Colorado in den USA, eingepackt von den Vorläufern der Rocky Mountains. Viele Eltern, die zu viel Geld hatten um sich um ihre Kinder zu kümmern, schickten ihre Sprösslinge hierher. Das Internat war aber auch bekannt dafür, dass es Waisenkinder aufnahm, die hier eine Chance auf eine gute Ausbildung bekommen sollten. So war es vorprogrammiert, dass es oft Streit gab zwischen denjenigen, die reiche Eltern hatten und sich als was Besseres fühlten und denjenigen, die Waisen waren und ihre Unterkunft in Lantyan aus sozialen Mitteln finanziert bekamen. Ein Mädchen von etwa 14 Jahren saß gerade am Fenster ihres Zimmers und war damit beschäftigt, ihre langen, dunkelbraunen Haare zu kämmen und währenddessen die ruhige Szenerie auf dem Schulhof in sich aufzunehmen, die sie von ihrem Zimmer im ersten Stockwerk gut beobachten konnte. Sie bemerkte schließlich auch einen Jungen, der rauchender Weise auf einmal mit einer Leiter vor ihrem Fenster auftauchte. Als er die Leiter gegen die Wand lehnte und zu ihr ans Fenster hochkletterte, machte sie eine abfällige Geste. „Rufus“, sagte sie. „Was willst du?“ „Klappe, Hannah Fanning“, meinte der Junge. „Ich sag’s dir noch mal im Guten: Überlasst uns euer Fort, und wir lassen euch in Ruhe, und keiner wird erfahren, was ich über dich weiß.“ „Du hast keine Beweise in der Hand“, sagte Hannah. „Wenn du dich nicht traust, morgen nach dem Unterricht die Schlacht deines Lebens zu kämpfen, sag’s einfach.“ „Du dummes Waisenkind“, schrie Rufus. „Ich hab wohl Beweise.“ Er holte sein Handy heraus und zeigte Hannah eine Videoaufnahme, die er kürzlich damit von ihr gemacht hatte. „Du hast mich heimlich gefilmt?“, schnauzte Hannah ihn an. „Gib sofort das Handy her.“ Rufus steckte es ein und schubste Hannahs Arm weg. „Gebt auf. Dann wird es nie einer erfahren.“ „Wovon träumst du nachts?“, sagte Hannah höhnisch. „Die Mädchen lassen sich nicht erpressen.“ „Ich werde das Video jedem schicken, den ich kenne“, antwortete Rufus daraufhin. „Das wagst du nicht“, rief Hannah. „Sie werden dich alle meiden. Du wirst keine Freunde mehr haben.“ „Was bist du nur für ein eingebildetes Arschloch mit reichen Eltern, der es nötig hat, andere bloß zu stellen, damit er selber besser dasteht?“ „Du willst also Krieg.“ „Morgen nach der Schule auf dem Feld“, stellte Hannah klar. „Und zieht euch warm an.“ Hannah zeigte es nicht, aber sie hatte schon Angst vor Rufus und seinen Jungs. Nach außen hin markierte sie oft die Starke, aber jetzt schien es brenzlig zu werden, denn wenn das stimmt, was Rufus sagte, dann kannte er ihr Geheimnis. Und Hannah wollte um Nichts in der Welt, dass es einer erfährt. Nicht einmal die Mädchen aus ihrer Clique kannten Hannahs Geheimnis. Sie war wütend. Das Mädchen mit den schulterlangen, braunen Haaren und den großen Rehaugen haute mit ihrer Faust auf den Fenstersims. Dann schloss sie das Fenster wieder. „Ich hab’s ihr versprochen“, sagte Hannah leise zu sich selbst. „Und ich halte mein Ver-sprechen.“ Dann lief sie aus dem Zimmer heraus. Sie tapste den langen Flur entlang und stapfte dann die Treppe hinunter, bis sie in den großen Tagesraum kam – eine Art Wohnzimmer mit Sofas, Anlage, Fernseher samt Konsole, Kicker und einiger anderer Beschäftigungsmöglichkeiten. Hannah kramte in einem der Schränke herum und fand schließlich eine Packung Luftballons, die sie dann herausholte. Danach ging sie zu einem anderen Schrank und holte dort eine Flasche Acrylfarbe heraus. In einer unbemerkten Ecke des Raums begann Hannah dann damit, die Farbe in die Ballons zu füllen, so dass kleine mit Farbe gefüllte Wasserbomben entstanden, die sie dann in einem Karton sammelte. Ungefähr 30 Ballons befüllte Hannah, bevor sie dann mit dem mit Ballons befüllten Karton den Raum wieder verließ. Währenddessen fuhr nahezu unbemerkt von den meisten Schülern ein Wagen vor dem Gebäude vor und hielt in der Nähe der großen Eingangstür. Eine Frau und ein etwa 15-jähriges Mädchen stiegen aus, während ein adrett gekleideter älterer Mann aus dem Gebäude kam. „Willkommen im Internat Lantyan“, begrüßte der Mann die Frau und das Mädchen. „Templeton ist mein Name, wir haben telefoniert.“ „Boyd“, stellte sich die Frau knapp vor. „Ich habe nicht viel Zeit. Lassen Sie uns schnell die Formalitäten erledigen, und dann mache ich mich auf zum Flughafen. In zwei Stunden geht mein Flug nach Hongkong.“ „Wie Sie wünschen“, antwortete Mr. Templeton. Sie gingen dann ins Büro des Internatsleiters, wo die Anmeldebescheinigung ausgefüllt wurde, und dann machte sich die Frau wieder vom Acker. „So, Jennifer“, sagte Mr. Templeton dann, als sie alleine waren. „Deine Mutter hat eine gute Wahl getroffen, dich hier anzumelden. Du wirst dich bei uns wohl fühlen, und wir werden sehen, dass wir die die nächsten vier Jahre bis zum Abschluss des Abiturs so angenehm wie möglich gestalten. Das Haus wird dir morgen deine Zimmerkollegin zeigen. Ich werde dich nun auf dein Zimmer bringen.“ Der Mann und Jennifer gingen die Treppe hoch in den ersten Stock, wo die Doppelzimmer der Mädchen waren. Vor Hannahs Zimmer blieb er stehen und klopfte an. Als keiner antwortete, öffnete er die Türe und geleitete Jennifer hinein. Nach einer kurzen Einweisung ließ er Jennifer dann ihre Sachen auspacken und verließ den Raum. Kurze Zeit später kam Hannah ins Zimmer, bepackt mit einem Karton, in dem sie die mit Farbe gefüllten Luftballons hatte. Jennifer blieb wie erstarrt stehen. „Oh“, meinte Hannah. „Du hast dich wohl im Zimmer geirrt.“ Jennifer schüttelte ihren Kopf. Dann sah Hannah, dass das Mädchen einen Koffer dabei hatte. Sachte stellte sie den Karton auf ihr Bett. „Dann ziehst du hier ein?“, fragte Hannah nach. „Ja“, sagte Jennifer leise. „Ich dachte nicht, dass das andere Bett in diesem Sommer noch belegt wird“, lächelte Hannah freundlich. „Weißt du, das Mädchen, die bis vor Kurzem hier war, wurde adoptiert und ist weggezogen. Sie sagten, vor Winter käme niemand Neues mehr. Wie heißt du?“ „Jennifer Boyd“, sagte Jennifer. „Aber du kannst Jenny sagen.“ „Ich bin Hannah“, entgegnete Hannah. „Hannah Fanning.“ Sie reichte ihr die Hand. „Was ist in dem Karton?“, wollte Jenny wissen. Hannah lachte. „Die meinen echt, die könnten unser Fort einnehmen“, erläuterte Hannah, während sie sich aufs Bett setzte. „Weißt du, seit einiger Zeit herrscht Krieg zwischen den Jungen und den Mädchen. Genau genommen, zwischen denjenigen, die reich sind und Eltern haben und denjenigen, die Waisen sind. Ich und ein paar andere Waisenkinder haben uns zusammengeschlossen und ein Fort auf dem nahe gelegenen Feld gebaut. Jetzt kommen diese blöden, reichen Jungs um Rufus und seine Bande und wollen uns unser Fort wegnehmen, mitsamt Inhalt. Morgen nach dem Unterricht wollen wir uns zu einem ultimativen Match treffen. Dafür sind diese Ballons.“ „Und damit wollt ihr gewinnen?“ „Nicht nur damit“, erklärte Hannah. „Die Nicht-Waisen glauben zwar, stärker zu sein als wir, aber wir sind viel gerissener und schlauer als die.“ Hannah drehte sich zu Jenny um. „Du bist doch hoffentlich auch eine Waise.“ Jenny schüttelte zaghaft den Kopf und erzählte, dass sie reiche Eltern hat, die aber ständig unterwegs waren. „Na, gut“, meinte Hannah. „Aber deine Mutter hat nie Zeit für dich. Also bist du sozusagen eine Waise und kannst an unserer Seite kämpfen. Sag das bloß nicht Rufus.“ Hannah und Jenny redeten noch die halbe Nacht. Um drei Uhr morgens wurden sie schließlich müde und waren gerade dabei, einzuschlafen, als sie auf einmal den Schrei eines Vogels hörten, der aber viel lauter war als die Rufe der Krähen, die man nachts manchmal hörte. „Was war das?“, fragte Jenny angstvoll. Hannah drahte sich um und machte mit ihrem Arm eine wegwerfende Geste, Dann kam wieder ein Schrei. „Hannah, hörst du das?“ Hannah stand dann auf und ging zum Fenster. „Vielleicht fliegt ein Dino hier rum – einer von diesen Viechern mit Flügeln, weißt du?“, sagte sie, während sie das Fenster öffnete. Und dann schrie dieses Etwas wieder. „Das muss ganz nah sein“, meinte Hannah. Und plötzlich flog ein etwa 10 Meter großer Vogel am Fenster vorbei. Er flog in die Höhe, über den großen Baum in der Mitte des Schulhofs hinweg in Richtung der angrenzenden Felder. „Ob das jemand gesehen hat?“, fragte Jenny dann. „Was um alles in der Welt war das nur?“, rätselte Hannah. „So einen großen Vogel habe ich noch nie gesehen.“ „Ich hab keine Ahnung“, meinte Jenny nachdenklich. „Sollen wir ihm folgen?“, meinte Hannah schließlich. Und noch ehe sie eine Antwort bekam, zog sie sich an. Nachdem auch Jenny sich anzog, schlichen die Mädchen hinaus auf den Schulhof und liefen heimlich zu den Feldern, wo auch das Fort der Mädchen-Clique war. Aber als sie dort ankamen, schien das große Etwas, was ein Vogel sein mochte, aber nicht da zu sein. „Jenny, du musst versprechen, dass du niemandem etwas über dieses Fort sagst, okay?“, sagte Hannah dann. „In Ordnung“, sagte Jenny. Und dann zeigte Hannah Jenny das selbstgebaute Häuschen aus Lehm und Stroh, um das eine Art Schützengraben gezogen war. Als sie rein gingen, entdeckte Jenny eine Menge Schätze, die Hannah und ihre Freundinnen gesammelt haben. Es gab hier jede Menge Plunder, aber einiges sah wertvoll und geheimnisvoll aus. Es gab unter Anderem ein paar alte Schatztruhen, Kisten, Skulpturen und einen alten Schrank mit einer Spiegeltüre, der ein kleines Stück vom Spiegel fehlte. „Wo habt ihr all die Sachen her?“, wollte Jenny wissen. „Gesammelt, gefunden, auf Trödelmärkten gekauft und so“, antwortete ihr Hannah. „Und was macht ihr damit?“ Jenny wollte gerade die Schranktüre mit dem zerbrochenen Spiegel öffnen. „Nicht, Jenny, fass das nicht an“, ermahnte sie Hannah. Jenny erschrak und hielt sofort inne. „Wieso? Was ist damit?“ „Das Ding soll verflucht sein, sagte die alte Frau, von der wir es haben“, erklärte Hannah. „Verflucht?“ „Sie sagte, jeder, der es berührt, der wird mit einem Fluch belastet sein, und er wird ein Gefangener werden, irgendwo in einer Zwischenwelt oder so.“ Hannah streifte sich durch die Haare. „Ich glaub das ja nicht, aber es ist besser, es nicht herauszufordern.“ „Seltsam“, überlegte Jenny. „Die Scherbe, die da fehlt, die soll hier irgendwo noch sein“, meinte Hannah. „Aber die alte Frau hat uns streng ermahnt, sie in keinem Fall einzusetzen, wenn wir sie finden.“ „Habt ihr deshalb Krieg mit den Jungs?“, wollte Jenny wissen. „Sie wissen von dem Schrank, und sie suchen, wie wir, diese fehlende Scherbe. Aber sie wollen sie einsetzen.“ „Was passiert, wenn ihnen das gelingt?“ „Ich weiß nicht“, sagte Hannah. „Aber irgendwas sagt mir, dass wir das nicht sollen.“ „Vielleicht kommen dann Dämonen oder so ähnlich auf die Erde“, witzelte Jenny. „Oder noch was viel Schlimmeres geschieht. Ich hab keine Ahnung.“ „Komm, wir gehen zurück ins Zimmer“, forderte Jenny Hannah auf. Die Mädchen liefen aus dem Haus heraus und gingen zum Feldweg, der am Rand der Felder entlang führte. Hinter einem Baum hörten sie plötzlich eine Jungenstimme. „Aha, auch noch nachts unterwegs?“, hallte es aus dem Dunkeln. Und dann kam Rufus hinter dem Baum hervor. „Was willst du hier?“, motzte Hannah ihn an. „Wer ist die?“, stellte Rufus die Gegenfrage und zeigte auf Jenny. Und ohne eine Antwort abzuwarten, kamen Rufus’ Freunde Ric und Molotov aus dem Dunkeln hervor, bewaffnet mit Ballons mit Farbe gefüllt. „Das ist unfair“, meinte Hannah. „Der Kampf ist morgen.“ „Och, hat das kleine Mädchen Schiss“, entgegnete Rufus. Und dann fingen die Jungs an zu schmeißen. Wenig später hatten sie Hannah und Jenny in der Mangel, und dann fesselten sie sie an einen Baum. „Durchsucht das Fort“, befahl Rufus seinen Jungs und wendete sich anschließend an Hannah. „Befrei dich doch“, sagte er zu ihr. „Na, los, benutze deine Macht.“ „Deine Macht?“ Jenny schaute fragend. Rufus sah zu Boden. Als er neben sich eine alte, dreckige Glasscherbe fand, hob er sie auf und hielt sie an Jennys Kehle. „Was ist, wenn ich schneide? Wirst du deine Macht dann anwenden? Wirst du ihr dann helfen?“ „Das wagst du nicht“, hauchte Hannah. „Los, beweise deine Macht“, rief Rufus aus. Und auf einmal… schoss eine Hand aus der Glasscherbe hinaus. Sie war voll Blut und Kratzer. Schnell befreite die Hand Hannah und Jenny aus den Fesseln, während Rufus die Scherbe fallen ließ. „Irre“, meinte Ric. Rufus zitterte vor Angst. Dann verschwand die Hand wieder. Und auf einmal kam der große, schwarze Vogel angeflogen und setzte sich neben Hannah und Jenny nieder. Rufus und die Jungs liefen weg so schnell sie konnten. Hannah hob langsam die Scherbe auf und sah hinein. Aber dort sah sie nicht ihr Spiegelbild, sondern das eines etwa 15-jährigen Jungen mit braunen Haaren, Stupsnase und vollen Lippen. Hannah ließ die Scherbe fallen. „Hannah, was ist hier los?“, wollte Jenny wissen. „Ich… weiß nicht…“, stotterte Hannah. „Was ist das für ein Vogel? Und was war das mit der Hand? Was hast du für eine Macht, von der Rufus sprach? Hast du das hier gemacht?“ Hannah schüttelte den Kopf. „Ich habe manchmal diese Fähigkeiten“, sagte sie leise. „Ich wünsche mir was oder denke an was, und dann wird es Wirklichkeit. Ich kann das manchmal. Ein Mädchen, die vor einiger Zeit hier ins Internat ging, hat mir mal gesagt, ich könnte zaubern, aber ich hab das nie geglaubt. Bis ich eines Tages gemerkt habe, dass ich das konnte. Und Rufus hat das heraus bekommen.“ „Wahnsinn“, meinte Jenny. „Wie irre ist das denn?“ „Aber das hier… das war ich nicht“, beteuerte Hannah. „Aber wer oder was war es dann?“, fragte Jenny leise. „Das ist alles ganz schön strange.“ Der Vogel hatte offenbar etwas im Schnabel und warf es schließlich Hannah und Jenny zu. Es schien ein altes Stück Papier zu sein. Wortlos hob Jenny es auf und entfaltete es. Es war wohl ein Ausschnitt aus einer alten Zeitung oder so ähnlich. Jenny las, was drin stand. „Junge nach Jahrmarktbesuch vermisst, wahrscheinlich tot“, las sie die Überschrift. „Bei dem diesjährigen Silver Summer, einem der größten Jahrmärkte Colorados, ist ein etwa 15-jähriger Junge spurlos nach dem Besuch des Spiegelkabinetts verschwunden. Rom Malumba besuchte das nahe gelegene Internat Lantyan und war jeden Tag auf dem Jahrmarkt gesehen worden. Zuletzt sah man ihn, wie er das Spiegelkabinett betrat. Als er auch nach Stunden dort nicht wieder hinaus kam, begann man, nach ihm zu suchen. Nach einem Tag wurden Hundertschaften von Polizei eingesetzt, und man schloss mittlerweile ein Verbrechen nicht mehr aus. Nachdem man das gesamte Spiegelkabinett und später das gesamte Areal auseinander nahm, fand man außer seiner Kleidung nichts. Dieser Vorfall ereignete sich, wie bekannt wurde, bereits letzte Woche, und nunmehr wurde die Suche eingestellt und der Junge für tot erklärt.“ Und dann breitete der Vogel seine Flügel aus und flog ohne ein weiteres Geräusch davon. „Jenny, von wann ist der Zeitungsausschnitt?“, wollte Hannah wissen. „Moment, da steht ein Datum“, meinte Jenny und sah nach. „Meine Güte, das ist über 30 Jahre her. Die Zeitung ist von vor 30 Jahren, aus dem Jahr 1983.“ „Der Junge, der verschwunden ist…“, hauchte Hannah. „Es gab Gerüchte über einen Internatsschüler, die aber vom Internatsregime vehement bestritten werden. Dann ist die Geschichte also wahr, und der Junge hat wirklich existiert.“ „Gespenstisch. Und wo ist er jetzt?“ „Das weiß keiner“, sagte Hannah. Sie sah wieder auf die Scherbe… und sah ihr Gesicht. „Diese Scherbe…“, meinte sie dann. „Die Frau, die uns den alten Schrank gab, meinte, er sei aus einem Spiegel von einem solchen Spiegelkabinett zusammengesetzt worden. Jenny, das hier muss das fehlende Stück vom Spiegel sein. Und der Spiegel, der muss zu dem Kabinett gehören, in dem damals der Junge verschwunden ist.“ „Sollen wir versuchen, ob es passt?“ „Nein“, meinte Hannah. „Du hast gesehen, was die Scherbe schon fabriziert hat. Wenn wir den Spiegel wieder zusammensetzen, passiert irgendetwas ganz Gewaltiges. Und ich glaube nicht, dass wir das heraufbeschwören sollen. Wir heben die Scherbe auf. Ich werde sie an meinem Körper tragen, so dass sie Rufus und den Jungs nicht in die Hände fallen kann.“ „Okay“, sagte Jenny. „Schwöre, dass du mit niemandem über das, was geschehen ist, redest“, forderte Hannah Jenny auf. „Und sag auf keinem Fall jemandem, dass du weißt, dass ich zaubern kann. Nicht mal meine Freundinnen aus der Clique wissen es.“ „Ich schwöre“, erwiderte Jenny. Und dann gingen die Mädchen zurück in ihr Zimmer im Internatshaus. Am nächsten Morgen um acht Uhr versammelten sich die Schüler vor den Klassenräumen im Westtrakt des U-förmigen Gebäudes. Vor dem Klassenraum der achten Klasse wartete Rufus bereits. Er kaute Kaugummi und schien sehr nervös zu sein, was er sich aber nicht anmerken lassen wollte. Als Hannah mit Jenny kam, hielt Rufus Hannah am Arm fest. „Was war das gestern Nacht?“, fragte er knapp. „Klappe!“, entgegnete Hannah. „Ich schwör dir, wenn du heute Abend mit irgendwelchen unfairen Mitteln kämpfst, bist du dran.“ Hannah schubste Rufus zur Seite, und in dem Moment kam auch schon der Lehrer an, der die Klasse in der ersten Stunde in Geschichte unterrichtete. „Guten Tag“, sagte er, während er die Tür öffnete. „Nehmt Platz.“ Die Schüler setzten sich hin. „Nun, wir werden heute das Referat über die Französische Revolution hören. Hannah Fanning, ich bin schon sehr gespannt auf deine Arbeit.“ Die Klasse verstummte. „Scheiße“, flüsterte Hannah ihrer Sitznachbarin und neuen Freundin Jenny zu. „Hab ich total vergessen. Ich bin gar nicht vorbereitet. Ich hab nichts geschrieben.“ „Hannah, kommst du nach vorne, bitte?“, forderte der Lehrer sie auf. Hannah stand langsam auf und ging mit einem hochroten Kopf nach vorne ans Lehrerpult, ihre Tasche in der rechten Hand. Hannah hatte das Referat, was sie hätte bis heute schreiben sollen, nicht mal ansatzweise geschrieben, geschweige denn, dass sie irgendeine Ahnung über die Französische Revolution hatte. Und jetzt? Was sollte sie machen? Sie musste es wohl jetzt vor der ganzen Klasse – inklusive Rufus – zugeben, dass sie es nicht gemacht hat und würde sich dafür eine 6 einhandeln. Wie sollte Hannah aus dieser Misslage herauskommen? Irgendetwas müsste passieren, irgendetwas. Langsam griff Hannah in ihre Tasche. Sie tastete herum, bis sie einen Ordner fand. Vorsichtig holte sie den Schnellhefter raus… und dann begann sie das zu lesen, was drin stand. „Die Französische Revolution“, begann sie. „Angeführt von Robbespierre widersetzte sich das französische Volk Ende des 16. Jahrhunderts dem Diktat des Königs Ludwig XIV, der ein hartes Regime gegen das aufgebrachte Volk führte, das in immer größerer Armut lebte, während der Adel immer mehr Reichtümer besaß.“ Hannah las weiter und las ein brillantes Referat vor, in dem sie weiterhin erklärte, dass die französische Revolution damit endete, dass der König und seine Frau geköpft wurden und das Volk die bis heute geltenden Grundregeln der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beschloss. Pünktlich zur Pausenklingel wurde Hannah fertig. Und auf dem Pausenhof zog Janny Hannah dann in eine Ecke. „Hannah, ich dachte, du hast das Referat nicht gemacht“, sagte sie. Hannah schnaufte aus. „Hab ich auch nicht“, sagte sie. „Ich hab’s hergezaubert.“ „Was?“ Jenny schaute verwundert. „Ich hab da vorne gesessen und mir gewünscht, dass ich ein komplettes Referat aus meiner Tasche hole. Und dann war es plötzlich da.“ Hannah sah Jenny an. „Wenn Rufus das spitz kriegt…“ „Wird er schon nicht“, lächelte Jenny. „Von mir erfährt er nichts.“ Am Abend wurde es im Internat wieder sehr ruhig, und während die meisten Kinder wieder auf ihren Zimmern waren, trafen sich einige wenige von ihnen hinter dem Gebäude auf den Feldern. Insgesamt sieben Jungs, darunter Rufus, Ric und Molotov, und fünf Mädchen – Hannah, Jenny und Hannahs Freundinnen Victoire, Larissa und Sandy – standen sich gegenüber. Rufus bäumte sich vor Hannah auf. „Letzte Warnung: Überlasst uns euer Fort mitsamt Inhalt“, befahl er ihr. „Vergiss es“, meinte Hannah cool. Und wenig später war die Ballonschlacht im vollen Gange. Als alle Ballons verbraucht waren, zogen die Jungs andere Mittel auf und keilten die Mädchen schnell ein. Prügeleien und Rangeleien zwischen den einzelnen Kindern entstanden. Und als alle sieben Jungs die fünf Mädchen in der Gewalt hatten und zu Boden geworfen hatten, stellte sich Rufus mit einem Fuß auf die am Boden liegende Hannah. „Lasst die anderen Mädchen frei, bis auf Hannah und Jennifer. Das hier ist was Persönliches“, befahl Rufus seiner Clique. Und Larissa, Sandy und Victoire verließen wenig später die Szenerie. „Ric. Molotov“, rief Rufus seine engsten Freunde zu sich. „Durchsucht die Mädchen.“ Rufus ging zu Ric, der ihm die geheimnisvolle Glasscherbe zeigte, die er gefunden hatte. „Das muss sie sein. Die Scherbe, die zu einem Schrank passen soll, der im Fort der Mädchen stehen soll.“ Rufus jubelte. „Molotov, Ric, geht ins Fort. Ich kümmere mich um die Mädchen.“ . Plötzlich stieg dichter Nebel auf den Feldern auf. Ein seltsames Geräusch, was wie ein verzerrtes Glockenklingeln klang, ertönte, und Rufus erstarrte nahezu zu Eis. Reflexartig zog er sich seine Hose wieder hoch, während eine seltsame Gestalt sich vor ihm aufbäumte. Rufus blickte in die Augen eines Jungen mit aschfahler Haut. Und dann kamen Ric und Molotov an. „Rufus, wir haben den Schrank gefunden. Die Scherbe passt… was ist hier los?“, fragte Ric. Schnell huschte die seltsame Gestalt zu ihnen und blickte sie mit einem eisigen Blick an. Dann öffnete die Gestalt ihren Mund… und weißer Rauch kam heraus. Die Pflanzen und Bäume ringsum ergrauten und erstarrten sogleich. Wiegten sie eben noch im sommerlichen Wind, standen sie jetzt bewegungslos und regungslos da. Und dann hob der Junge seine Hand. Und Ric, Molotov und Rufus liefen, zitternd vor Angst, davon. Die Fesseln lösten sich, und schon in der nächsten Sekunde standen Jenny und Hannah vor ihrem Fort. „Kommt!“, sagte die unheimliche Gestalt leise. Und dann verschwand er im Fort. Hannah und Jenny, keines Wortes mächtig, liefen dem seltsamen Wesen hinterher. Vor dem Schrank, in dem die fehlende Scherbe in den Spiegel bereits eingesetzt war, blieben sie stehen. „Hannah…“, hauchte Jenny. „Sie haben die Scherbe eingesetzt“, stellte Hannah zitternd fest. „Sie glauben, du hast das hier gemacht“, flüsterte Jenny. „Ich war das nicht“, sagte Hannah. „Das kommt aus dem Spiegel. Irgendetwas ist dahinter.“ Sie zeigte auf den geheimnisvollen Jungen. „Und er kommt von dort.“ „Kommt, Hannah Fanning und Jennifer Boyd“, hauchte der Junge. Und dann packte er die Mädchen und zog sie in den Spiegel hinein. Kein Glas zerbrach. Der Spiegel war kein Spiegel, sondern eine Wand aus durchlässigem Nebel. Aus einem durchlässigen Stoff, den keiner erklären konnte. Die Mädchen hatten einen Herzschlag von 180 und kniffen beide ihre Augen zu. Das Letzte, was sie fühlten, war, dass sie in die Tiefe gerissen wurden und fielen. Sie fielen immer weiter, scheinbar in ein Loch ohne Boden, in einen Abgrund, der sie wer weiß wohin brachte. Sie fielen, und der Fall mochte kein Ende nehmen. Sie fielen unendlich.
Posted on: Sat, 19 Oct 2013 18:59:24 +0000

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