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NZZaS 25. August 2013 # Vergissmeinnicht Twittern am Totenbett, digitale Friedhöfe und Nachrichten aus dem Jenseits: Soziologinnen untersuchen, wie das Internet unsere Trauerkultur verändert. Von Simone Schmid Vor einem Monat hat der amerikanische Radiomoderator Scott Simon Aufsehen erregt: Er twitterte sechs Tage lang aus der Intensivstation des Northwestern Memorial Hospital in Chicago und liess seine 1,2 Millionen Follower daran teilhaben, wie seine Mutter starb. Er berichtete von schlaflosen Nächten, von Ängsten und Schmerzen, von Snacks und Sauerstoffmasken, und am 29. Juli kam der Tweet: «Die Himmel über Chicago haben sich geöffnet, und Patricia Lyons Simon Newman hat die Bühne betreten.» Ein Live-Ticker vom Totenbett: Darf man das? Die Leser amerikanischer Zeitungen waren geteilter Meinung. Die einen hielten Simons Tweets für einen makabren Tabubruch. Die anderen liessen sich von den ehrlichen, unmittelbaren Botschaften berühren. Egal, was man von ihnen hält: Die Tweets zeigen, wie das Internet unsere Trauerkultur verändert. Und diese Entwicklung ist nicht zuletzt für Soziologen interessant. «Der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer verrät immer auch viel über das Leben, über gesellschaftliche Werte und Normen», sagt Nina Jakoby vom Soziologischen Institut der Universität Zürich. Die Regeln des Trauerns Die Gesellschaft stellt Regeln für Gefühle auf. In Bezug auf Trauer gibt es zum Beispiel klare Vorstellungen davon, wann wie viel davon angebracht ist und wen man öffentlich betrauern darf. Wer zu lange eine tote Katze beweint, wird schnell stigmatisiert – auch den Schmerz über den Tod der heimlichen Geliebten kann man nur mit wenigen Leuten teilen. «Wir wollten wissen, ob solche Regeln auch im Internet gelten», sagt Jakoby, die demnächst mit einer Kollegin mehrere Studien zum Thema publiziert. Eine Fundgrube für die Forschung sind sogenannte Web Memorials – digitale Friedhöfe, auf denen virtuelle Grabsteine und Gedenkseiten für Verstorbene eingerichtet werden können. Hier sind Emotionen schriftlich festgehalten: gutes Forschungsmaterial für die Soziologinnen. Nach der Analyse von über 100 Gedenkseiten auf zwei deutschen Portalen (memorta.de; strassederbesten.de) waren für die Wissenschafterinnen vor allem zwei Beobachtungen interessant: Im Netz zeigte sich oft, dass die Angehörigen die Toten direkt ansprachen – ein Verhalten, das im Alltag schnell als pathologisch gelten würde. Im Internet hörte das gemeinsame Leben mit dem Tod nicht auf, oft wurde der Alltag mit den Verstorbenen geteilt. Die einen berichteten von der Geburt eines Kindes, die anderen erzählten von ihrer neuen Stelle, und so verschmolzen auf den Websites die Bereiche zwischen Lebenden und Toten. Eine zweite Beobachtung betraf die Trauerzeit. Seit längerem wird in der Psychologie, Psychiatrie und Soziologie diskutiert, wie lange eine «normale» Trauerzeit dauern soll – früher ging man davon aus, dass die Zeit Wunden heilt und man von der Trauer irgendwann einmal gesundet. Das neuere Modell der Continuing Bonds hingegen besagt, dass emotionale Bindungen und der damit verbundene Schmerz für immer bestehen bleiben können. «Auf den virtuellen Friedhöfen sahen wir, dass viele Nutzer noch nach 10 oder 20 Jahren ihrer Liebsten gedacht und tiefe Trauer ausgedrückt haben», sagt Jakoby. Das sei ein Hinweis darauf, dass langes Trauern nicht krank, sondern normal sei. Insgesamt könne im Internet die Trauer freier gezeigt werden, fasst Nina Jakoby zusammen. Doch auch im Netz gebe es bestimmte Normen, ähnlich wie auf Friedhöfen oder bei Abdankungen. So wird auch auf den digitalen Friedhöfen meist nur Gutes über die Verstorbenen gesagt – eine Regel aus der Echtwelt, die sich gehalten hat. Grüsse aus dem Jenseits Die virtuellen Friedhöfe sind nicht der einzige Ausdruck der neuen Trauerkultur im Internet. Auf Facebook zum Beispiel können Profile nach dem Tod des Inhabers zu einer Gedenkstätte umfunktioniert werden, sofern Freunde auf Facebook ein Onlineformular ausfüllen und eine Todesanzeige als Beweis anhängen. Etwas gruseliger ist das Angebot «Dead Social»: Hier kann jeder Botschaften verfassen, die nach seinem Tod auf Facebook und Twitter veröffentlicht werden. Wer will, kann seine Facebook-Freunde bis in alle Ewigkeit an den eigenen Geburtstag erinnern – oder zumindest so lange, bis «Dead Social» vom Netz ist. «Man kann diese Entwicklungen nur ambivalent einordnen», sagt Nina Jakoby. Einerseits schaffe das Internet eine ganz neue Möglichkeit, über den Tod zu sprechen. «Leuten wie dem Radiomoderator Scott Simon mag dies helfen, ihre Trauer zu bewältigen und soziale Unterstützung zu finden.» Andererseits gebe es auch Menschen, die sich von dieser Offenheit belästigt fühlten, oder Angehörige, die nicht möchten, dass im Netz das Privatleben einer verstorbenen Person ausgebreitet werde. «In Zukunft wird man mehr über postmortale Persönlichkeitsrechte diskutieren müssen und über das Recht von Verstorbenen auf Vergessen.» Vergessenwerden wird tatsächlich immer schwieriger. Im Netz können Menschen virtuell am Leben bleiben, gehegt und gepflegt von Freunden oder Angehörigen. Was das für Auswirkungen auf die Hinterbliebenen hat, ist noch nicht erforscht. Hilft die virtuelle Unsterblichkeit bei der Bewältigung der Trauer, oder macht sie alles nur noch schlimmer? «Die Psychologie sieht diese fortbestehenden Beziehungen mit Toten eher kritisch», sagt Jakoby. Auf den Portalen äusserten sich zwar viele Leute positiv über die digitale Präsenz der Verstorbenen. «Aber es gibt auch Menschen, welche die Toten früher oder später einfach vergessen möchten.»
Posted on: Sun, 25 Aug 2013 13:07:52 +0000

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