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SAMSTAG, 02. NOVEMBER 2013 WIRTSCHAFT Ein Herz für die Kuh, ein Händchen fürs Geschäft Moderne Landwirte sind Unternehmer. Sie investieren Millionen, expandieren und machen mehr, als bloß Kühe zu melken und Kartoffeln zu ernten. Eine Geschichte aus Brandenburg. Von Henrike Roßbach KLOSTER LEHNIN, 1. November. Vielleicht lag es an dem schicken Besteckkoffer, dass Timo Wessels damals, mit 21 Jahren und im Konfirmationsanzug, solchen Eindruck machte auf die Vorstände der elterlichen Hausbank. Den Koffer nämlich hatte er zu Hause entleert, seine handgeschriebenen Unterlagen hineingetan, und war dann losgegangen, um einen Kredit über 850 000 Mark zu beantragen. Für einen neuen Stall. Wessels, heute 34 Jahre alt, mag diese Anekdote. Noch mehr aber mag er, wie sie ausging. Denn er bekam den Kredit, obwohl seine Eltern ihm gesagt hatten, das könne er vergessen. Die Zusage kritzelten die Vorstände auf einen Schmierzettel. Es war gerade nichts anderes zur Hand; der Bankberater hatte den Junglandwirt mit in die Kantine genommen, damit er den mittagessenden Chefs dort seine Pläne direkt erläutern konnte. Wessels – Jeans, grüner Fleece-Pulli mit hochgekrempelten Ärmeln und Firmenlogo auf dem Rücken – hat etwas Abenteuerlustiges an sich. Seine ganze Familie scheint so zu sein. Milchbauern aus Niedersachsen sind sie; „wir melken Kühe seit hundert Jahren“, sagt er. Aber es waren zu wenige. Das wurde ihm und seinem Vater klar, als sie nach der Wende einen Hof in Mecklenburg-Vorpommern besuchten. Die gigantischen Flächen dort, die Ställe, all das verschlug ihnen derart die Sprache, dass es fast die ganze Rückfahrt dauerte, bis Wessels junior das Wort ergriff: „Du, Vadder, das mit unseren 70 Kühen hat keinen Sinn.“ Was die Wessels damals erkannten, erkennen viele Landwirte. Die Zahl der Höfe mit weniger als 100 Hektar Land sinkt, die Zahl der größeren Betriebe steigt. Zwar machen kleine Höfe noch immer den Großteil aller Agrarbetriebe hierzulande aus. Doch diejenigen mit mehr als 100 Hektar stehen umgekehrt für mehr als die Hälfte der gesamten Agrarfläche. Ähnlich ist die Entwicklung bei den Milchbauern. Heute haben sie im Schnitt etwa doppelt so viele Kühe im Stall wie Anfang der neunziger Jahre. Gleichzeitig ging die Zahl der Milchbauern rasant nach unten. Und noch immer sind die strukturellen Unterschiede zwischen Ost und West eklatant: Im Osten, wo viele Höfe Nachfolgebetriebe der riesenhaften LPGs aus DDR-Zeiten sind, bewirtschaften die Bauern wesentlich größere Flächen als im Westen. In Bayern hat der Durchschnittshof gut 30 Hektar, in Mecklenburg-Vorpommern fast 290. Und während in Bayern nur gut 4 Prozent der Kühe in Betrieben mit mehr als hundert Tieren leben, sind es in Brandenburg fast alle. Bevor die expansionswilligen Wessels gen Osten zogen, waren auch mal Kanada oder Dänemark im Gespräch gewesen. Dann aber beauftragte die Familie einen Makler mit der Suche nach einem Betrieb in Ostdeutschland, und zwei Jahre später zogen die Eltern und die drei Kinder nach Damsdorf, einem Ortsteil der Gemeinde Kloster Lehnin, gut eine Stunde von Berlin entfernt. Der 15. März 1997 sei das gewesen, sagt Timo Wessels. Sein achtzehnter Geburtstag. In dem brandenburgischen Dorf hatte eine Agrargenossenschaft zum Verkauf gestanden, und Familie Wessels bekam den Zuschlag. „Wir sind eine Familie von Praktikern, wir haben immer mit unseren Händen gearbeitet“, sagt Wessels und erzählt, wie sie nach dem Umzug auf dem Hofgelände ihr Haus gebaut haben. Geheult oder gearbeitet habe er damals. Laut Berufsabschluss ist Wessels Landwirtschaftsmeister, vor allem aber ist er ein Unternehmertyp. Mit acht Mitarbeitern hatten sie Ende der Neunziger begonnen; heute sind es mehr als achtzig in den drei Firmen der Wessels-Gruppe. Bezahlt werden sie auch nach Erfolg – Lehrlinge nach Schulnoten, Melker nach Milchmenge. Die Wessels GbR, die im Prinzip die Geschäfte der alten Genossenschaft weiterführt, erwirtschaftete vergangenes Jahr 3,6 Millionen Euro Umsatz. Hinzu kommt ein Lohnbetrieb mit einer Million Euro Umsatz, über den Dienstleistungen wie Rasenmähen für die Kommune oder 900 Quarantäneplätze für den Export von Rindern angeboten werden. Und dann gibt es noch das Biogas. „Wir haben uns sehr früh mit Biogas beschäftigt“, sagt Wessels und berichtet, wie unfassbar er es fand, aus Gülle Strom produzieren zu können. 2006 errichteten sie die erste Anlage auf dem Hof – und dachten sich, die Wartung doch eigentlich auch für andere anbieten zu können. Mittlerweile können sich die Kunden gleich die ganze Anlage von Wessels bauen lassen. 12 Millionen Euro Umsatz haben sie 2012 damit gemacht; fast die Hälfte aller Mitarbeiter ist in dem Firmenzweig beschäftigt. Die Agrargenossenschaft hatte die Familie 3 Millionen Mark gekostet. „Seither haben wir nur investiert“, sagt Timo Wessels, Vater dreier Kinder und seit vergangenem Jahr Alleineigentümer. Er überschlägt kurz die Summen: „Bestimmt 15 bis 18 Millionen.“ Geld bekamen sie stets von den Banken und aus Investitionsfördermitteln des Landes Brandenburg. Wessels läuft über das Gelände. Es riecht, wie es häufig riecht auf dem Land. Leicht beißend, nach Gülle. Hinter den Ställen gucken die Jurten der Biogasanlage hervor. Die Kühe stehen in ihrem Offenstall und tun im Prinzip, was sie wollen. „Licht, Luft, gutes Futter, gute Betten, Massagebürsten“, sagt Wessels. „Je besser es einem Tier geht, desto besser die Leistung.“ Schon als sie loslegten in Damsdorf, bauten sie Tiefliegeboxen – mit Stroh statt Gummimatten. „Wer fressen will, frisst, wer liegen will, legt sich hin, wer rumlaufen und trinken will, macht eben das“, sagt Wessels. Wie zum Beweis trottet eine Kuh zur Massagebürste und lässt sich den Nacken kraulen. Dreimal am Tag wird gemolken, drei bis vier Minuten je Kuh. Die Milch geht an die Molkerei Müller. Hier, sagt Wessels und zeigt zu den Kühen und Kälbchen, schlage sein Herz noch immer am heftigsten. „Wir sind nicht Bauern, weil wir im Dreck wühlen wollen.“ Sondern weil sie eine Leidenschaft für die Arbeit hätten. Große Zahlen schrecken Wessels nicht mehr, er ist furchtlos geworden seit der Sache mit dem Besteckkoffer. „Richtig oder gar nicht“, sagt er. Richtig findet er beispielsweise 5,6 Millionen Kilogramm Milch im Jahr. Die will er erreichen; derzeit liegen sie noch bei 3,6 Millionen Kilo. Am Anfang gehörten zum Wessels Hof 180 Kühe und 900 Hektar Land. Heute sind es 360 Kühe, mit Kälbchen 750 Tiere, und 1700 Hektar. Wessels spricht davon, dass das Management gut sein müsse, man gute Leute brauche und auf die Wirtschaftlichkeit achten müsse – dann könne man als Landwirt erfolgreich sein. „Viele trauern der alten Landwirtschaft hinterher.“ Aber sie passe nun mal nicht zum Auftrag, billige Lebensmittel zu produzieren. Größere Betriebe seien schlicht wirtschaftlicher. Außerdem, fügt er hinzu, gebe es auf einem Hof wie dem seinen geregeltere Arbeitszeiten und Jobs für Spezialisten – vom Buchhalter übers Stallpersonal bis zum Treckerfahrer. In kleinen Betrieben dagegen mache die Familie alles alleine. 365 Tage im Jahr. Dass solche Bauern übers Fernsehen eine Frau suchen müssen, wundert Wessels kein bisschen. Er selbst wirkt ein wenig wie aufgezogen. Als denke er schon über das nächste große Ding nach, kaum dass das vorherige abgehakt ist. Sein derzeitiger Lieblingsgedanke: Tourismus. Einen Reiterhof hat die Familie schon, jetzt will Wessels ein Hotel und ein Restaurant. Und eine kleine Milchzapfstelle für die Dorfbewohner. Das Häuschen steht schon. Von meinem iPad gesendet
Posted on: Sun, 03 Nov 2013 09:58:43 +0000

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