Tourette-Syndrom Ausgetickt 18.07.2013 · Fast dreißig Jahre - TopicsExpress



          

Tourette-Syndrom Ausgetickt 18.07.2013 · Fast dreißig Jahre hatte das Tourette-Syndrom sie fest im Griff. Alle zwei Minuten litt sie unter unkontrollierbaren Bewegungen und Ausrufen. Nichts half wirklich. Dann ließ sich Daniela Merck am Gehirn operieren. Von Kathrin Runge Artikel Bilder (1) Lesermeinungen (0) Illustration / Tourette-Syndrom © F.A.S. So äußert sich das Tourette-Syndrom: Tics wie Blinzeln oder Zungerausstrecken, Grimassen schneiden, Wörter wiederholen, grunzen, quieken, beleidigen. Wenn Daniela Merck von diesem Tag im Jahr 2008 erzählt, spricht sie von sich wie von einem Elektronik-Laden; von all diesen kleinen Drähten, die aus ihrem Kopf standen, den Akkus, Steckverbindungen und Volt-Zahlen. Fünf Jahre ist es bald her, dass Daniela Merck am Kopf operiert wurde. Ihre langen blonden Haare hatte man im oberen Kopfbereich geschoren, damit sie die Chirurgen nicht störten. Aber was bedeutet das schon, wenn man gerade aus der Narkose aufgewacht ist und die nächste Operation bereits ansteht. Eine Woche nach dem ersten Eingriff wurden die Elektroden aus Mercks Hirn mit einem in Bauchnabelhöhe unter der Bauchdecke implantierten Schrittmacher verbunden, der die Größe einer Zigarettenschachtel hat. Ob das kleine Gerät, das Mercks Gehirn seither elektrische Impulse sendet, jemals helfen würde, wusste die Tourette-Patientin zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Genauso wenig wie ihr Arzt am Klinikum München-Großhadern, der Neurochirurg Jan Mehrkens. Behandlung mit der „tiefen Hirnstimulation“ Doch nach einem Leben, das bis zu diesem Zeitpunkt von Tics, unkontrollierten Ausrufen und Bewegungen, von Leid und Selbstverletzungen begleitet war, setzte Merck (die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will) große Hoffnung auf den Schrittmacher. Sie gehört zu den wenigen Tourette-Betroffenen, die bislang mit der „tiefen Hirnstimulation“ behandelt werden. Eigentlich eine Therapie, die bei Menschen angewendet wird, die unter Parkinson oder multipler Sklerose leiden; Hunderte solcher OPs werden jährlich in Deutschland bei solchen Patienten durchgeführt. Für Tourette-Betroffene stehen Wissenschaft und Praxis bei dem Verfahren hingegen noch am Anfang. “Seit 1999, seitdem man erstmals einem Betroffenen mit Tics einen Schrittmacher implantiert hat, wurden weltweit nur 100 Fälle publiziert“, sagt Mehrkens. Man hört ihm die Enttäuschung darüber an, dass die Forschung nur schleppend vorangeht. Acht Patienten haben der Neurochirurg und sein Team in den vergangenen sieben Jahren betreut. Damit ist das Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) eine der führenden Einrichtungen in Deutschland, die schwere Tourette-Fälle behandelt, bei denen keine andere Therapie langfristigen Erfolg brachte. Bis zu 550 000 Tourette-Kranke in Deutschland Mehr als fünf Millionen Deutsche haben laut der Deutschen Gesellschaft für Neurologie irgendeine Form von Tics. Die meisten davon verschwinden von selbst, die Betroffenen brauchen keine Behandlung. Anders bei chronischen Formen des Gilles-de-la-Tourette-Syndroms, einer nach einem französischen Arzt benannten Erkrankung, die sich durch heftige unkontrollierbare Bewegungen, Ausrufe und Geräusche auszeichnet. Obwohl die Symptome bereits 1885 wissenschaftlich beschrieben wurden, war die Krankheit unter Ärzten bis in die 1990er Jahre weitgehend unbekannt. Die Schätzungen, wie viele Menschen in Deutschland erkrankt sind, reichen von 40 000 bis 550 000, viele davon ohne offizielle Diagnose. Merck ist heute 33 Jahre alt. Seit 15 Jahren weiß sie von ihrer Erkrankung. Als ihre Eltern vor Jahrzehnten zum Kinderarzt gingen, weil das Mädchen so oft mit den Schultern zuckte und die Nase rümpfte, riet dieser, die Marotten nicht weiter zu beachten. „Das vergeht schon wieder.“ Bei anderen Kindern vergingen die Macken. Nicht bei Daniela Merck. Merck verletzte sich, obwohl sie es nicht wollte Tourette an sich tut nicht weh, sagt sie, zumindest nicht körperlich. „Es fühlt sich an wie ein Kribbeln in der Bauchgegend, das immer heftiger wird, wie vorm Niesen. Ich merke, dass da was kommt, was sich dann plötzlich entladen muss.“ Merck ist eine attraktive Frau, der Typ, nach dem sich Männer herumdrehen: blonde gestufte Haare, exakter Lidstrich und Mascara, hochhackige Schuhe und schwarze Lackhose. Vor einigen Wochen haben sie und ihr Mann das zweite Kind bekommen, Maximilian wurde zweieinhalb Jahre nach seinem Bruder David geboren. Im vergangenen Jahr ist die Familie in ihr neu gebautes Haus gezogen. Ein Stadtteil im oberbayerischen Ingolstadt mit nicht einmal 1000 Einwohnern. Bis in die achtziger Jahre war es noch ein Dorf; man kennt sich, man kennt Merck, die dort schon aufgewachsen ist. Als Kind konnte sie ihre Tics noch gut überspielen. In der Pubertät wurde das immer schwerer. Sie zuckte und warf ihren Kopf ständig hin und her, bis er schmerzte. Sie verletzte sich selbst, obwohl sie es nicht wollte. „Wenn ich mit einem Messer in der Küche war, zack, hab ich mich geschnitten, oder beim Schreiben, zack, mit dem Kuli gepiekst.“ Kein Arzt konnte helfen. „Wir sind von Pontius zu Pilatus gelaufen“, erzählt Merck. „Jeder hat rumprobiert, aber keiner wusste genau, was es ist.“ Erst in der psychiatrischen Spezialambulanz der LMU traf sie auf einen Arzt, der ihr Medikamente gab und sagte: „Wenn die helfen, dann ist es Tourette.“ Das war kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Die Medikamente halfen - zumindest kurzzeitig. Manche Tourette-Betroffenen haben einfache Tics wie Blinzeln oder Zungerausstrecken, andere schneiden permanent Grimassen, wiederholen Wörter, grunzen und quieken, schreien „Ficken“ und „Arschloch“. Die genauen Ursachen des Syndroms sind unbekannt. Bislang ist daher auch keine Heilung möglich, nur die Behandlung von Symptomen. Man vermutet, dass der Stoffwechsel in den Basalganglien, also in einer Struktur mitten im Gehirn, im Ungleichgewicht ist. Viele Patienten bekommen Psychopharmaka; auch Verhaltens-, Musik- oder Entspannungstherapien können helfen. Kein Medikament half auf Dauer Daniela Merck hatte nach der Realschule ihre Ausbildung zur Industriekauffrau fast schon abgeschlossen, als die Tics unter dem Prüfungsdruck immer schlimmer wurden. Es begann ein kontinuierliches Einschleichen und Absetzen von Medikamenten. Rund fünfzig Tabletten nahm sie insgesamt, vor allem Neuroleptika, von denen sie müde und schwerfällig wurde, emotional abstumpfte und zwanzig Kilogramm zunahm. Mit den Nebenwirkungen hätte Merck vielleicht leben können. Aber kein Medikament half ihr auf Dauer. „Das zieht einen psychisch total runter“, sagt sie, „wenn man dauernd merkt, dass es immer wieder schlechter wird. Der ganze Lebensplan, den ich hatte, ging Stück für Stück den Bach runter.“ Hochzeit, Kinder, ein eigenes Haus: Es war lange Zeit nicht abzusehen, dass sich nur eines davon jemals erfüllen würde. Lange schwor Merck, dass sie sich umbringen würde, sollten zu ihren Tics auch noch Beschimpfungen kommen. Mit Anfang zwanzig begann tatsächlich das, was Experten „Koprolalie“ nennen, also das zwanghafte laute Aussprechen von vulgären, obszönen Worten. „Aber man ist stärker, als man glaubt. Man wächst mit seinen Tics“, sagt Merck und lächelt, so wie sie trotz ihrer Geschichte oft lacht, offen und ehrlich. Sie fing an, unwillkürlich „Heil Hitler!“ zu rufen, nachdem sie auf einer Selbsthilfeseite von dem Symptom gelesen hatte. Sie sagte „Fette Sau!“ und weinte, weil sie fürchtete, es hätte jemand gehört. Nicht einmal mehr in ihrem Heimatort ging Merck noch spazieren, weil sie sich so schämte. Mit den Hunden fuhr sie im Auto aufs Feld und zurück, obwohl es zu Fuß so nah gewesen wäre. Sie begann eine zweite Ausbildung als Kinderpflegerin in einem integrativen Kindergarten, wo ihr nach der Probezeit gekündigt wurde, weil sie der Leiterin nichts von Tourette erzählt hatte. Merck sei damit auf Dauer nicht tragbar, hieß es, natürlich nur inoffiziell. „Ich war am Boden zerstört“, erinnert sie sich. Der Hirnschrittmacher befreit von Selbstverletzung und Schimpfworten Ihren Ehemann hat Daniela Merck als Zwanzigjährige während einer guten Phase kennengelernt. Ihm erzählte sie Stück für Stück von ihrer Krankheit. Aber er bekam ohnehin mit, wie die Impulse öfter und öfter kamen. Über Monate hinweg musste sie dreimal die Woche zur Elektrokrampftherapie in die Klinik - bis sie zweimal nicht mehr aufhörte, zu krampfen, und die Therapie danach abgebrochen werden musste. Wenn Merck von dieser Zeit erzählt, stockt sie oft, muss lange nachdenken. „Ich weiß nicht mehr viel von damals, ich habe Gedächtnislücken“, sagt sie. Und dann zuckt ihr Körper plötzlich zusammen, stößt ein lautes, kurzes Geräusch wie bei einem Schluckauf aus; Daniela Merck sagt kurz „Sorry“ und schmunzelt: „Ich bin jetzt bissl aufgeregt, da ist das wieder bissl schlimmer alles.“ Die Erinnerung an früher, die letzte Schwangerschaft und der fehlende Schlaf der jungen Mutter rufen wieder Tics hervor. Doch während Merck bis zur Operation im Jahr 2008 im Schnitt alle zwei Minuten unkontrollierbar tickte, ist sie heute teils über Tage hinweg symptomfrei. Der Hirnschrittmacher unter der Bauchdecke, den man von außen fassen kann, hat ihr geholfen. Die Selbstverletzungen und Schimpfworte gehören komplett der Vergangenheit an. „Ich habe nie geglaubt, dass das mal so gut wird“, sagt Merck. Bei der Tiefen Hirnstimulation geben implantierte Elektroden permanent Impulse an eine bestimmte Hirnregion ab; der genaue Wirkungsmechanismus ist bislang jedoch unbekannt. „Anders als bei Parkinson“, so Arzt Mehrkens, „wo man weiß, welchen Punkt im Hirn man stimulieren muss, gibt es bei Tourette mehrere unterschiedliche Punkte, wahrscheinlich auch je nach den Symptomen eines Patienten.“ Ob ein Hirnschrittmacher bei einer Person Erfolg hat, kann bislang niemand voraussagen. Dass er bei Merck so gut angeschlagen hat, ist zum Teil einfach Glück. „Wir sind eben noch auf der Ebene von Studien“, sagt Mehrkens. Von den acht Tourette-Betroffenen, die er bisher operiert hat, habe sich bei dreien gar nichts verändert. Fünf gehe es heute jedoch besser - darunter Daniela Merck, die nach einer einjährigen Einstellungsphase mit einer Stromstärke von 4,8 Volt so gut wie ticfrei ist, höchstens ein leichtes Kribbeln durch den Schrittmacher spürt und ein neues Leben führen kann. Hirnstimulation ist in Deutschland nicht unumstritten Ein Leben mit Kindern, das für die junge Frau vor der Operation weit entfernt schien. „Ich war gesundheitlich so mit mir selbst beschäftigt, dass ich mich um Nachwuchs gar nicht hätte kümmern können.“ Durch den Schrittmacher hat sie ihre Tabletten absetzen können. Die erste Geburt fand noch unter Vollnarkose statt, weil die Ärzte nicht wussten, wie sich die Wehen und das Pressen auf die Elektroden auswirken würden. Vieles bei der Hirnstimulation von Tourette-Patienten ist noch unklar, auch der langfristige Verlauf. Der Gießener Soziologe Helmut Dubiel, der aufgrund seiner Parkinson-Erkrankung einen Hirnschrittmacher hat, sagte einmal in einem Interview, die Wissenschaft stehe mit dieser Technik am Rande eines neuen Zeitalters: „Man kann die Menschen elektronisch steuern, manipulieren.“ Seine Motorik habe sich durch die Stimulation zwar verbessert, verändert hätten sich aber auch Wahrnehmung und Denken. Psychochirurgische Eingriffe sind in Deutschland nicht unumstritten. „Hirnoperationen sind natürlich ein ethisch-moralischer Grenzbereich“, sagt auch Mehrkens. Daniela Merck hat keine Angst vor Langzeitfolgen, die noch niemand abschätzen kann. „Selbst wenn ich irgendwann mal zum Beispiel einen Hirntumor bekommen sollte, hätte ich mich wieder für die OP entschieden, weil ich durch sie so viele gute Jahre hatte.“ Aber eigentlich, fügt sie noch hinzu, denke sie über solche Dinge gar nicht nach, in ihrem Kopf haben ganz andere Themen Priorität. Während Merck im Café sitzt und erzählt, wird Maximilian zum ersten Mal nicht gestillt, sondern bekommt zu Hause ein Fläschchen von seinem Vater. Selbst nach ein paar Stunden hat ihr Handy noch nicht geklingelt. Daniela Merck kann es kaum glauben. faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/tourette-syndrom-ausgetickt-12281695.html
Posted on: Fri, 09 Aug 2013 01:54:17 +0000

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