Wir wollen euch den Nachbericht von Franz Preihs´ Race Across - TopicsExpress



          

Wir wollen euch den Nachbericht von Franz Preihs´ Race Across America "Pati Passio" nicht vorenthalten. Pati Passio – 5.000 km durch Amerika Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt… PROLOG Oceanside Kalifornien, Suite 402 im Marriott Courtyard Hotel: 22:43 Uhr Ortszeit… Das Einschlafen fällt ihm schwer, knapp 12 Stunden vor seinem dritten Start beim Race Across America, dem längsten und sicherlich schwersten Langstrecken-Radrennen auf dem Planeten. Er ahnt, was ihn erwarten wird. Er weiß, wie sich Schlafentzug auf das Bewusstsein auswirkt. Zu gut kann er sich noch an die Schmerzen erinnern, als er bei seiner letzten Teilnahme im Jahr 2009 mit angeschwollenen Knie, groß wie ein Basketball, das Rennen in New Mexiko beenden musste. Oder an seinen Unfall 2008, als er sich bei einem Sturz das Schlüsselbein brach und 3.000 Kilometer unter massiven Schmerzen als Viertplatzierter ins Ziel fuhr. An der Grenze seiner Leidensfähigkeit. Das Hotel ist neu, luxuriös und schön ruhig. Er lauscht dem ruhigen Atem seiner Ehefrau, die neben ihm schläft. Die 9-köpfige Crew muss diese Nacht schon im Camper verbringen. 9 Menschen, unterschiedlichen Alters und unterschiedlichen Geschlechts, bunt zusammengewürfelt nach fachlicher Qualifikation und Begeisterungsfähigkeit. Ob sie wohl Schlaf finden? Er geht nochmal zum Fenster und blickt in die Nacht. Für die meisten Menschen ist es eine Nacht wie jede andere. Nicht für ihn! Für ihn ist es die Nacht vor dem RAAM. Vor seinem RAAM. Seinem dritten RAAM. Wieder im Bett atmet er tief und ruhig – konzentriert sich auf seinen Atem. Bauchatmung. 5 Sekunden einatmen – 10 Sekunden den Atem halten – ausatmen. Irgendwann schläft er ein. Das letzte Mal ein wohltemperiertes Zimmer, ein sauberes Bett. Zumindest bis zum anderen Ende des Kontinents. Das Ziel heißt Annapolis! 5.000 Kilometer und über 50.000 Höhenmeter trennen ihn vom dort gebuchten Hotel. 4 Stunden vor dem Start lässt er sich die Haare von einem Crewmitglied rasieren. 3 Millimeter sind genug für Temperaturen jenseits der 40 Grad und den grünen Fahrradhelm, den er ab sofort 23 Stunden am Tag tragen wird. Jetzt geht alles ganz schnell. Als wäre er in einem dunklen Raum mit einem Stroboskop. Alles bewegt sich im Stakkato um ihn herum. Menschen klopfen ihm auf die Schultern, umarmen ihn, wünschen ihm alles Gute. Er ist weit weg von ihnen. Er ist schon am Rad – in Gedanken draußen in der Isolation der Wüste. Im Tunnel kurz vor dem Start. Er stamme Interviews, lacht in Kameras von fremden Menschen. Jeder meint es gut mit ihm. Er selbst meint es am besten mit sich. Schottet sich ab. Die Hülle ist für alle präsent, er selbst, sein Inneres, ist in einem safe place. Er findet Ruhe. 1 Stunde vor dem Start ruft er zu Hause an. Seine Mutter ist am Telefon. Er fragt nach seinem Hund. Alles ok! Murphy geht’s gut! Er muss los, er muss eine Mission erledigen, die niemandem auf der Welt etwas bedeutet außer ihm selbst! Er muss einen Kontinent durchqueren. Möglichst schnell. Nonstop. Mit Muskelkraft. Auf einem Fahrrad. Er hat seinem Hund versprochen wieder gesund heimzukommen. Er hat es sich selbst versprochen. DOLERE Die erste Pedalumdrehung fühlt sich an als würde er fliegen! Applaus, Kameras! Er beschleunigt. Ballast fällt von ihm ab. Er ist dort, wo er hingehört. Am Rad. Dafür hat er sich ein Jahr lang vorbereitet. Hat auf vieles verzichtet, was das Leben angenehm erscheinen lässt. Für ihn war es logisch: Zuerst das Rad, dann alles und jeder andere. Viele konnten es nicht verstehen. Haben den Kopf über ihn geschüttelt. Seine Frau ging täglich um 7 Uhr in der Früh in die Arbeit. Während sie schuftete, saß er am Rad und trainierte. Jeden Tag. Kein Kino. Keine Party. Keine langen Treffen mit Freunden. Der Radweg. Er kennt ihn schon von den letzten Teilnahmen und ist sich trotzdem nicht sicher, ob das der richtige Weg ist. Sein Betreuerfahrzeug wird er erst in knapp 45 Kilometern das erste Mal sehen. Nervös blickt er sich um. Hinter ihm kein weiterer Rennfahrer in Sicht. Vor ihm auch niemand. Er checkt den Tacho. Erst 9 Kilometer. Er versucht sich zu beruhigen. Der Puls ist zu hoch. Warum ist der Fahrer vor ihm so schnell, dass er ihn nicht sehen kann? 175 Puls. Er ermahnt sich selbst. 165 ist das Maximum. Er wird ein bisschen langsamer, nimmt Druck raus. Es geht steil bergauf. Verdammt nochmal, er ist in der Anfangsphase eines 5.000 Kilometer langen Radrennens, er muss langsamer werden. 168 puls. Zu steil – zu heiß! Egal: er muss das Tempo halten. Vor ihm ein gelber Helm! Die Strecke stimmt. 168 puls scheint ihm auch aushaltbar. Das Rennen kann beginnen. Jetzt ist er bereit. Endgültig. Nach 18 Kilometern hat er seinen Rhythmus gefunden. Der gelbe Helm zeigt ihm den Weg. Er murmelt sein Mantra. Immer und immer wieder. 172 puls. Es wird steiler. Der gelbe Helm kommt immer näher. Ein rot-blauer Helm erscheint am Horizont. Er murmelt weiterhin sein Mantra und zieht am gelben Helm vorbei. 178 puls. Es pocht in seinen Schläfen. Zu schnell. Wiedermal. Und das während der ersten Kilometer. Langsamer. Er tut sich schwer. Der rot-blaue Helm wird zum natürlichen Tempomacher. Rot-blau folgen bedeutet 168 puls. Das ist gut. Sein Begleitfahrzeug steht am rechten Fahrbahnrand. Endlich 2 neue Flaschen – die anderen 2 hat er in den knapp 90 Minuten ausgetrunken. Diesmal was blaues, etwas isotonisches. Es kümmert ihn nicht, was er zu trinken bekommt. Hautsache nass und kalt. Rot-blau taugt nicht mehr als Tempomacher. Er wird ihn überholen und dann die lange Abfahrt in die Anza Borrego Wüste in Angriff nehmen. Das RAAM hat begonnen. Das Teilnehmerfeld zieht sich auseinander. Gegner verschwinden nach vorne und nach hinten und er wird immer ruhiger. Das ist seine Welt des Radfahrens. Nicht der Kampf Mann gegen Mann, sondern der Kampf gegen die Elemente, gegen die Natur, gegen sich selbst! Er ist glücklich. Zumindest für Sekunden. Das Thermometer zeigt 46 Grad. Es ist 17:00 Uhr. Wo bleibt die Nacht? Noch immer herrscht leapfrog Verpflegung. Eine hektische Angelegenheit. Die Crew kann die Verpflegung nicht aus dem fahrenden Auto reichen, sondern muss immer wieder überholen, sich am rechten Fahrbahnrand einparken. Im Vorbeifahren versucht er, die Wasserflasche und die Gels aufzunehmen. Wann wird es Nacht? Wann wird es kühler? Er spürt den Spannungskopfschmerz, verursacht durch die Hitze. Und die aufkommende Übelkeit. Es dauert keine 5 Minuten und seine eisgekühlte Wasserflasche mutiert zu einem lauwarmen, fahl schmeckenden Getränk. Er murmelt immer wieder sein Mantra und wundert sich, warum es noch nicht 19:00 Uhr ist. Dann wird alles besser nimmt er sich vor. Die Crew muss aufgrund der Nachtfahrregelung ununterbrochen hinter ihm nachfahren, es wird kühler, er kann endlich Musik hören und mittels Funk mit den Betreuern sprechen. Die Nacht ist sein Freund! Die Nacht wird sein Freund werden. Zumindest nimmt er sich das im Moment vor. Die Nacht lässt ihn im Stich. Zumindest temperaturmäßig! Das Trikot hat er noch immer geöffnet. Es hat 40 Grad. Auch mitten in der Nacht. Der Spannungskopfschmerz und das Brennen auf der Haut, verursacht durch die Sonne, lassen nach. Die Wüste ist ein seltsamer Ort in den USA. Besteht aus einem sandigen Asphaltband und wird anscheinend nur einmal im Jahr von Radfahrern, dafür aber im Minutentakt rund um die Uhr von Trucks durchquert. Es geht wellig dahin. 3 Minuten bergauf, 1 Minute bergab, 10 Minuten geradeaus, 4 Minuten bergauf! Er denkt nicht nach. Treten wird bald zur automatisierten Tätigkeit. Treten ist Bewegung. Es ist ein Countdown. 5.000 bis null. Jeder Kilometer minimiert die Distanz zwischen ihm und dem Ziel. Immer wieder versucht er die Perspektive zu wechseln. Betrachtet sich von außen – steht am Streckenrand und feuert sich selbst an. Er murmelt sein Mantra! Die Gedanken schweifen ab in die Nacht. Er denkt an zuhause. Seine Lieblingsstrecke im nahen Wald. Er geht jeden Meter davon ab. Meter für Meter in Gedanken. 45 Minuten benötigt er dafür, wenn er sie gemeinsam mit Murphy geht. 45 Minuten gibt er sich auch beim RAAM dafür Zeit, um sie gedanklich abzuschreiten. Er checkt die Uhr am Tacho. 7 Minuten hat er gebraucht. Er verwirft die Idee, nochmal zuhause spazieren zu gehen und bleibt wieder im Hier und Jetzt. Er kommt wieder zurück in die Wüste, irgendwo in Arizona, mitten in der Nacht. In der ersten von vielen Nächten am Rad. Aber in einer der wenigen, in welcher er noch keine Probleme und Schmerzen haben wird. Er versucht das zu genießen! Noch ist Zeit dafür. Nach 24 Stunden nonstop erreicht er Timestation 6! Der Tag verursachte ihm Probleme en masse! 47 Grad Celsius seit in der Früh. Er musste für eine Stunde vom Rad. Seine Kerntemperatur wäre zu hoch wurde ihm erklärt. Er wurde mit Eis gekühlt. Er hinterfragte nichts. Legte sich hin. Der Arzt hängte ihm Infusionen an, der Physiotherapeut kühlte ihn mit einem riesen Eissack. Das war vor 4 Stunden. Er fühlt sich noch immer schlapp. Timestation 6 hat einen Pool. Er steigt vom Rad und springt so wie er ist in das lauwarme Wasser. Es kühlt trotzdem. Er fragt sich, wie es wohl wäre einfach hierzubleiben. In dieser kleinen Oase mitten im Nichts. Im Pool sitzen zu bleiben. Müde fühlt er sich. Ausgelaugt. 3 Minuten später ist der Spaß vorbei. Er wird abgerubbelt, eingeschmiert, angezogen. Wie eine Marionette lässt er alles mit sich machen. 7 Minuten später sitzt er wieder am Rad. Er trägt jetzt ein frisches Trikot und frische Hosen. Es riecht nach Waschmittel. Es riecht nach Normalität. Wenig später sind Hose und Trikot schweißgetränkt. Es riecht nach Schweiß, isotonischen Getränken und Blut, das aus seiner Nase tropft. Es riecht wieder nach RAAM. Sedona: der spirituelle Mittelpunkt der USA. Viele Esoterik-Freaks pilgern in dieses Kaff mitten in den Red Rocks. Um 2 Uhr früh wirkt nichts esoterisch. Es wird Zeit für eine kurze Schlafpause. Der Camper, den er in Los Angeles angemietet hat, darf die engen Straßen auf diesem Streckenabschnitt nicht befahren und ist rund 80 Kilometer entfernt. Zu weit entfernt für diese Nacht. Er sitzt seit 40 Stunden am Rad. Das Motel in Sedona kostet stolze 90 Dollar für 2 Stunden. Endlich ausziehen. Kurz nackt sein. Kein Druck am Hintern, keine Druck auf den Füßen, kein Ziehen in den Oberschenkeln. Der Arzt hantiert an ihm rum, seine Frau füttert ihn. Er schläft ein. 1 Stunde später wacht er auf. Schweißgebadet. Kalter Schweiß. Eigentlich paradox. Er hat den ganzen Tag geschwitzt und dann schwitzt er auch noch im Schlaf trotz des angenehm temperierten Zimmers. Weiterschlafen bringt nichts. Er wälzt sich noch 10 Minuten unruhig hin und her. Dann meldet er sich retour zum Dienst. Das übliche Procedere. Arzt, anziehen, aufsitzen. TRETEN OUDÈIS Monument Valley – er befindet sich im riesigen Reservat der Navajo Indianer. Er fühlt sich klein in dieser unendlich weit erscheinenden Landschaft, die aus großen Felsen und kleinen Sandkörnern besteht. Er trägt voller Stolz und auf Befehl seines Arztes eine Chirurgenmaske, um seine Atemwege vor dem feinen Sand zu schützen. Verwegen fühlt er sich. Obwohl die Maske immer wieder an seinen Mund klappt, und das bei jedem Atemzug. Einatmen bedeutet Maske am Mund, ausatmen bedeutet Maske zwei Zentimeter vor dem Mund. Ein netter Zeitvertreib. Die Maske ist getränkt von Speichel, Schweiß und Blut. Jeder Griff zur Wasserflasche wird mühsam. Die Speichel-Blut-Schweiß-Maske kurz weg vom Mund ziehen, einen Schluck trinken und die Maske wieder justieren. 5 Minuten später das gleich Spiel. Er hat richtigen Stress mit der Chirurgenverkleidung. Ob sein Arzt bei seinen Operationen wohl auch immer die Maske auf die Seite klappen muss, wenn er was zu trinken braucht? Hinter ihm wird geplaudert, Musik gespielt, es werden ihm Fragen gestellt und Antworten gegeben. Er besteht mittlerweile aus zwei Personen. Er besteht aus der Hülle, die sich über Funk mit der Crew unterhält, die sich geduldig einschmieren lässt, die trinkt, wenn man ihr zu trinken reicht und isst, wenn man ihr was zu essen gibt. Und er besteht aus sich – aus seinem wahren Kern. Der mit sich alleine da vorne am Rad sitzt. Mit seinen Gedanken. Seinen Zweifeln und Ängsten. Seinen Hoffnungen und Wünschen. Nicht sichtbar und nicht kommunizierbar für oder mit anderen. Colorado bedeutet Berge. So wie Nepal bergsteigen bedeutet, bedeutet Colorado klettern mit dem Rad. Rocky Mountains heißt der Gebirgszug. Weit über 3.000 Meter hoch. Dünne Luft. Wolf Creek Pass, ein Mythos. Schon vor Jahren in den Büchern von Wolfgang Fasching hat er davon gelesen. Voller Ehrfurcht. Jetzt befindet er sich mitten im Anstieg. Ein schwerer Berg. Er muss kämpfen. Er muss fokussieren. Die Crew unterhält ihn auf ihre Art. Es wird gescherzt. Es wird mitgelaufen. Es wird sich verkleidet und es wird applaudiert. Er ist trotzdem alleine. Doch nun beginnt sich ein treuer Begleiter zu ihm zu gesellen: Der Schmerz. Er ist wie ungebetener Besuch. Kommt immer im falschen Moment, ist sehr schwer wieder loszuwerden und geht einem tierisch auf den Geist. Sein unerwünschter Gast klopft an sein Hinterteil. Er ahnt schon, was das bedeutet. Die Haut am Hintern gibt auf. Ihr wird das zu viel. Sie kapituliert und lässt sich gehen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die sich verabschiedende Haut und der Schmerz geben sich die Klinke in die Hand. Er hat eine Skala des Schmerzniveaus zur Kommunikation mit seinem Arzt vereinbart. 0 ist schmerzfrei. 10 bedeutet, dass der Schmerz nicht mehr auszuhalten ist. 10 bedeutet ein ernsthaftes, akutes Problem. 20 Kilometer nach dem Wolf Creek Pass liegt seine Skala bei 8. Das erste Mal muss er jetzt beim Verarzten des Hinterns auf ein Stück Holz beißen. Die Spiele haben begonnen. Er weiß, dass ab diesem Zeitpunkt das RAAM in gewisser Hinsicht auch eine Lotterie wird. Hält das Immunsystem durch? Bekommt er eine Infektion an der offenen Wunde? Hält sein Kopf das aus? Am vierten Tag passiert wenig. Die Schmerztherapie funktioniert. Kansas. Toll zum Radfahren denkt er sich. Er ist guter Dinge. Telefoniert kurz mit seinen Eltern. Murphy geht es gut. Er muss fahren. Er muss treten. Kein Problem in Kansas. Rückenwind. Flach. Wie am Ergometer. Keine bösen Überraschungen. Keine roten Ampeln. Nur Felder, ein Asphaltband, alle 200 Kilometer eine Ansammlung von einigen Häusern und riesige Getreidesilos. Und ein schwarzes Armageddon, auf welches er zusteuert. Als die Nacht hereinbricht, erreicht der Wind eine Geschwindigkeit von 75 Meilen pro Stunde. Er versucht, diesen Wert im Kopf umzurechnen. Sollten um die 120 Kilometer pro Stunde sein. Das ist viel. Er kennt das vom Berg. Da hat er schon Probleme aufrecht zu stehen und nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt ist er auf keinem Berg. Jetzt ist er am Rad. Mitten in Kansas und lehnt sich wie ein Surfer gegen den Wind, der von der Seite kommt. Strömender Regen, Blitze im Sekundentakt. Er fragt sich, ob das Funkgerät an seinem Helm, voll mit Elektronik, die Blitze anzieht. Er verzichtet darauf, die Crew zu fragen, ob er da draußen sicher ist. Er kennt die Antwort. Doch er muss weiter. Er muss nach Annapolis. Er muss durch Amerika. Er zieht weiter, das Unwetter bleibt zurück. Zuhause ist es immer umgekehrt. Dafür kommt jetzt ein viel unangenehmeres Problem auf ihn zu und zwar rapide: 7,8,9,10,Bingo! Der Punkt ist erreicht, an dem das Sitzen unmöglich ist. Automatisch kullern die Tränen aus seinen Augen. Nicht aus Trauer. Der Schmerz und die Wut über den Schmerz lassen ihn weinen. Der Arzt behandelt, therapiert, schmiert, spritzt. Es hilft nichts mehr. Es greift nichts. Der Arzt ist ratlos und verzweifelt. Er fragt nach dem nächsten internationalen Flughafen. Es erscheint ihm plausibel einfach dorthin zu radeln, in einen Flieger nach Österreich zu steigen und das alles hinter ihm zu lassen. Das Rad, die Crew, die Straße, den Schmerz. Heim in sein Bett. Die Balken zumachen, so wie es sonntags bei ihm Tradition ist. Am Nachmittag kurz hinlegen und die Welt nach draußen sperren. Der Mechaniker tüftelt an einer Lösung. Weicher sollte er sitzen. Den Druck am Sattelanders verteilen. Die engen Radhosen ausziehen, sodass Luft an die Wunde gelangt. Irgendjemand reicht ihm eine Boxershort. Sättel werden zersägt und mit Schaumstoff beklebt. Letztendlich findet er sich auf einem weißen Polster wieder. Er trägt eine blaue Boxershort. Der Polster ist jetzt ein Sattel. Die Boxershort fungiert als Radhose. Er setzt sich auf sein Rad. Schmerzlevel 6. Mit 6 kann man zumindest losfahren. Auch wenn er Schmerzen hat. Aber Stufe 6 ist aushaltbar. Er beißt die Zähne zusammen. 10 Kilometer später ist er wieder auf 8. Er bleibt stehen. Wo ist der Flughafen in St. Louis? Wann geht der nächste Flieger? Der Sattel wird nachjustiert. Es wird geklebt und gebastelt. Er steigt wieder auf. Schmerzlevel 5. Das ist gut denkt er sich. Er wird nochmal probieren. 7 Stunden später pendelt er zwischen 5 und 6. Manchmal 7, wenn die Straße ganz schlecht wird. Mit 5 und 6 hat er seine helle Freude. So soll es bleiben – dann kann nicht viel passieren. Mittlerweile hat sich sein Zeitgefühl komplett verloren. Er trinkt und isst auf Kommando, er funktioniert, wenn die Crew sich mit ihm unterhält. Er reagiert auf Kommandos. Er unterhält sich mit Fans an den Kontrollstationen. Doch eigentlich ist er allein. Sein Leben wird bestimmt von den Zahlen 5,6,7,8! Er beobachtet seinen Körper, er screent immer wieder die Signale. Die Knie, die Schultern, der Hintern. Sein Körper wehrt sich jetzt gegen die Belastung. Bereits 3500 Kilometer auf dem Fahrrad. Viele seiner Bekannten und Freunde fahren das in einem ganzen Jahr nicht. Er ist jetzt knapp 6 oder 7 Tage unterwegs. Er kann nicht mehr abschätzen, wie viele Tage er schon am Rad sitzt. Er beginnt zu rechnen. Wie viele Nächte muss er wohl noch in dem Campingmobil schlafen? Wie oft werden sie ihn wohl noch nach knapp 2 Stunden Ruhe wecken? Wie oft wird er wohl noch in der Morgendämmerung auf das Rad steigen müssen? Wie oft noch Level 9 und 10? Wie oft noch die unglaublich schmerzhaften Spritzen mitten in die Wunde? Wie oft noch auf das Stück Holz beißen beim Reinigen und Verarzten der Wunde? Noch 1.000 Kilometer. Er weiß, wie lange 1.000 Kilometer sind. 1.000 Kilometer sind circa 2 Tage. Er rechnet. 2 Tage. In seinem Zustand? Oder werden es drei? Verzweiflung überkommt ihn. Die letzten 1.000 Kilometer beim Race Across America bedeuten vorwiegend eines: Berge. Oder Hügel. Wie immer man es nennen will. Das Ganze hat einen Namen: Die Appalachen. Ein Gebirgszug, der sich parallel zur Ostküste der USA zieht. Er sitzt vor einem Fast Food Lokal und isst Pommes Frittes! Trinkt Cola aus einem riesigen Plastikbecher. Die 10 Minuten in der Zivilisation geben wieder Kraft. Es gibt sie noch, die Welt abseits des Rades, abseits der Schmerzen. Er beobachtet die Kids, die sich hier treffen um miteinander abzuhängen. Dürfte die einzige Möglichkeit für soziales Miteinander in diesem Dorf mitten in West Virginia sein. Er muss weiter. Noch 800 Kilometer. Level 7-8, das hält er aus. Das muss er aushalten. Er fragt sich, wann er wohl das erste Mal den Ozean riecht. Momentan riecht er noch nichts. Wahrscheinlich ist es noch zu früh für eine Meeresbrise? Er fährt weiter. Bergauf. Fast immer nur bergauf. 400 Kilometer. Der letzte Tag beginnt um 4 Uhr früh. Ausläufer der Appalachen. Level 10! Alarm. Er muss vom Rad. Er hält die Hand einer seiner Betreuer. Er braucht irgendwas zum Festhalten, zum Festkrallen, während er die Behandlung des Arztes über sich ergehen lässt. 10,9,8,7,6… es dauert eine Ewigkeit, bis der Schmerz nachlässt. Noch 380 km und das mit Schmerzlevel 6! Er beginnt zu rechnen. 380 Kilometer sollten in 16 Stunden zu schaffen sein. Es wird leichter, denn hier gibt es keine berge mehr. Alle 4 Stunden einen Level auf der Schmerzskala hochrücken. Das würde erst kurz vor dem Ziel wieder eine 10 werden. Das muss er schaffen. Das wird er schaffen. 80 Kilometer vor dem Ziel. Das erste Mal ist ANNAPOLIS auf einer Ortstafel zu lesen. Erstaunlicherweise pendelt er zwischen 8 und 9. Schmerzlevel 10 lässt noch auf sich warten. Es ist Zeit, Abschied vom Arzt zu nehmen. Dieser fährt mit dem Rest der Crew voraus ins Ziel. Die ersten Glückwünsche treffen ein. Per E-Mail, per SMS. Er will sie noch nicht hören. Er fährt mit Schmerzlevel 9 und es sind noch 80 Kilometer. Hinter ihm seine Frau, der Mechaniker, der Fahrer. Es ist schaffbar! Er darf nur keine Fehler mehr machen. Jetzt werden Minuten zu stunden. Jeder Kilometer erscheint wie eine kleine Ewigkeit. Noch immer kein Meer in Sicht! Es ist stockdunkel. Hinter ihm löst sich die Stimmung. Musik wird gespielt. Es wird gescherzt. 10 Kilometer. Er soll es genießen, meint man aus dem Begleitfahrzeug! Level 9+ kann er nicht genießen. Noch nicht. 10.000 Meter noch. Er denkt an seine Zeit als Läufer zurück. 10.000 Meter sind 35 Minuten, wenn man schnell läuft. Er fährt langsam! Dürfte das gleiche sein. Noch 35 Minuten! Er sieht das Meer. Die Silhouette des Ozeans in der Dunkelheit! Das Ortschild von Annapolis, die Eskorte der Rennleitung tauchen auf. Vor 248 Stunden ist er am anderen Ende des Kontinents auf sein Fahrrad gestiegen. Jetzt steigt er ab. Es war sein Race Across America. Er hat seine Mission beendet. Er kann heimfahren. Die Trophäe bei der Finisher Party kann er sich nicht abholen. Erscheint ihm auch nicht wichtig. Was ihm wichtig ist – hat er….
Posted on: Fri, 12 Jul 2013 13:43:50 +0000

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