Seite 2 der weitläufige park verband die leinengasse mit dem cafe - TopicsExpress



          

Seite 2 der weitläufige park verband die leinengasse mit dem cafe und schmiegte sich wie ein halbmond um die verwaltungsgebäude der stadt. uralte kastanienbäume warfen ihre stachelfrüchte ab, grosse ahornbäume flammten in der oktobersonne und wiegten ihre spiegelbilder in den flussarmen. am rostigen eisentor, das zum jüdischen friedhof führte, stand piets lieblingsbaum, eine prächtige felsenbirne in ihrem brennenden schmuck. ihr feuriger orangeton spielte schon ins rötliche, und wenn der wind durch sie hindurchfuhr, zitterten ihre blätter an den stilen, wie vögel, die im nächsten moment auffliegen wollen. sie liebten den park. hier verbrachten sie die mittagsstunden miteinander, dann ging yasmen an ihre arbeit, bei der sie fast allein in dem riesigen schulgebäude war und ihren geist wandern lassen konnte, und piet kehrte zurück in sein büro im finanzamt, zu seiner leitenden funktion, seiner verantwortung für dinge und sachverhalte, vor denen es sie grauste. schon allein der gedanke daran, dass jeder mensch beim einwohnermeldeamt registriert wird, löste unbehagen in ihr aus. der ganze bürokratische apparat flösste ihr furcht ein, und obgleich sie ihre angelegenheiten gewissenhaft geregelt hatte, und kein schlechtes gewissen haben musste, öffnete sie ihren briefkasten nur mit angehaltenem atem, und wenn sie dort einen brief von irgendeinem amt fand, war sie einer panik nahe. sie wollte nichts weiter, als in ruhe gelassen werden, und ein ein gefäss sein für alles schöne, das ihr begegnete. sie fühlte sich reich, übervoll von bildern, fantasien und gefühlen, und wollte alles, was sie sah und empfand, einfliessen lassen in ihren tanz und in ihre gedichte, die von landschaften handelten, von pflanzen, planeten, und tieren, und, seit sie ihm begegnet war, auch von der liebe. noch vor ein paar wochen hatte sie von seiner existenz gar nichts gewusst. in ihrer bescheidenen, und doch für ihr empfinden so priveligierten lebensweise, hatte die vorstellung von einer beziehung gar keinen platz gehabt. der gedanke, noch einmal eine bindung einzugehen, und sich selbst in den banalitäten eines bürgerlichen alltags zu verzetteln, erschien ihr völlig absurd. doch war da in ihr dieser ferne, halbbegrabene traum gewesen, dieses verlangen nach einer tiefen, aufwühlenden erfahrung. sie wollte herzklopfen, sehnsucht, und sie wollte jemandem etwas bedeuten. er hatte mit einem glas in der hand bei libelles tisch gestanden. libelle war reporterin der stadtzeitung, eine lokale berühmtheit, die sich hier unters volk gemischt hatte, und einen kaffee trank. sie war kultiviert, kühl und aussergewöhnlich langbeinig. er war nicht gross und nicht schön. libelle hatte eine augenbraue hochgezogen. "ach ja, piet," sagte sie, "ich erinnere mich. nein, ich hab leider keine zeit. ich erwarte jemanden." "entschuldige bitte die störung, libelle", entgegnete er. "ich wünsche dir noch einen schönen tag. bis ein andermal vielleicht." seine gepflegte art zu sprechen fiel hier, wo man den örtlichen dialekt mit modewörtern versetzt sprach, ebenso aus dem ramen wie sein anzug. seine stimme war unglaublich. sie war in yasmens brustraum gesunken wie die melodie eines ägyptischen arghouls. als er sein getränk bezahlt hatte, und sich zum gehen wandte, hatte sie ohne zu zögern ihre jeansjacke vom haken genommen, und war ihm in den herbsttag hinaus gefolgt. es wurde der schönste oktober ihres lebens. alle farben um sie herum schienen in einer zarten melancholischen weise zu einem grossen lächeln zusammenzufliessen. ein leuchten hatte begonnen in ihr zu wachsen, wörter stiegen in ihrem inneren empor, wie glänzende kostbarkeiten, formierten sich zu kleinen und grösseren gruppen, drehten sich umeinander, und schufen niegesehene choreografien. ihr leben war plötzlich aus einem guss. es machte keinen wirklichen unterschied mehr, ob sie am morgen im cafe sass und ein gedicht schrieb, mittags neben ihm durch den park lief, am nachmittag in den sonnendurchflutenten hohen räumen der schule mit weitausholenden harmonischen bewegungen die schmutzigen böden in grosse saubere nassglänzende flächen verwandelte- oder sich am abend beim schein unzähliger kerzen zum gesang von om kalthoum vor dem spiegel drehte und wand, ihre märchenhaften gewänder überstreifte, und mit offenen augen von der nacht träumte, in der sie ihm vortanzen wollte. alle lebensfreude, aller glanz kam ihr von den herzstücken des tages, die sie zusammen verbrachten. seine art zu sprechen, die ordnende kraft seiner sätze, seine genauigkeit, mit der er jedem gesprächsgegenstand zuleibe rückte, seine offenheit und neugier mit der er ihren geschichten zuhörte, und den kunstvoll verschlungenen pfaden ihrer gedanken und fantasien folgte, erfüllte sie mit erstaunen und hochachtung. nie zuvor hatte sie einen mann wie ihn getroffen. er verstand ihre gedichte, und was er dazu sagte, hatte hand und fuss. sie lernte von ihm. beide seiten, intuition und verstand, schienen in ihm gleichermassen ausgeprägt zu sein.
Posted on: Sun, 28 Jul 2013 06:49:41 +0000

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