Staatliche Netzspionage: Angriff auf die - TopicsExpress



          

Staatliche Netzspionage: Angriff auf die Meinungsfreiheit spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-staatliche-netzspionage-und-meinungsfreiheit-a-917475.html Eine Kolumne von Sascha Lobo Volkszählung, Überwachungsstaat, der gläserne Bürger - vor 30 Jahren erregten diese Themen die Republik, es kam zu Massenprotesten. Bislang bleibt es in der aktuellen Spähaffäre weitgehend ruhig. Die "Guardian"-Affäre könnte das nun ändern. "Verzögerungen im Betriebsablauf" ist eine der Standardphrasen der Bahn, die erklären sollen, warum der Zug nicht da ist. Diese Wendung hat inhaltlich den Nährwert einer gut abgehangenen Scheibe Styropor. Ihr häufiger Gebrauch aber zeigt: Kaum etwas ist so schwierig, wie dem Publikum befriedigend zu erklären, warum etwas nicht passiert. Die meisten Netzaktivisten und viele Journalisten hat irritiert bis erschüttert, dass die Spähaffäre von weiten Teilen der Bevölkerung achselzuckend hingenommen wird. Zu diesen subjektiven Einschätzungen existieren auch objektivere in Form von repräsentativen Umfragen. Für die meisten Bürger sind Rentenfragen, Energiepolitik oder zukünftige Besteuerung um ein Vielfaches wahlentscheidender. Diese Haltung ist legitim. Auch wenn sie einzelne dazu verleiten mag, Nadeln in Bundesbürgerpüppchen zu stechen. Die Frage, weshalb die Spähaffäre kaum Empörung verursacht, muss diskutiert werden, ohne die Mehrheit der Unwutbürger zu diskreditieren. So schwer das auch fällt. (Zu dieser Haltung musste ích mit mehreren Ausrutschern auch selbst erst hinfinden. Es fällt mir immer noch schwer.) Aber was ist passiert mit einer Bevölkerung, die in den achtziger Jahren aus Furcht vor Überwachungsstaat und gläsernem Bürger eine breite Bewegung gegen die Volkszählung aufbaute, mit Tausenden Bürgerinitiativen, Zehntausenden Demonstranten, hunderttausendfach verkauften Protestschriften? Eine mögliche Antwort ist für Netzaktivisten schwer zu ertragen, denn die dazugehörige These lautet: Das Internet ist passiert. Das Netz selbst desensibilisiert seine Nutzer in Fragen persönlicher Daten. Auf der einen Seite fordert und fördert es etwa durch soziale Netzwerke, privateste Informationen öffentlich zu machen. Auf der anderen Seite stehen Mechanismen der digitalen Datenwirtschaft. Ein "Retargeting" genanntes System sorgt dafür, dass der Nutzer sich einmal auf Amazon ein Produkt ansieht und anschließend auf anderen Webseiten Werbung für exakt dieses Produkt eingeblendet wird. Im Netz ist Überwachung Standard Wie anders sollte ein durchschnittlicher Nutzer - der die genauen technischen Umstände nicht kennt, nicht kennen muss und nicht kennen will - das Retargeting empfinden, wenn nicht als Überwachung jeder seiner digitalen Schritte? Wenn jemand auf dem Android-Handy etwas sucht, das er anschließend auf dem Laptop ins digitale Geschehen eingeflochten sieht - was anderes sollte man fühlen, als dass im Netz offenbar ein "full take" aller persönlicher Daten stattfindet? Schon dass irgendwann angeklickte Links auf ganz anderen Seiten nicht mehr blau, sondern violett gefärbt sind, erzeugt das Gefühl: Im Netz ist Überwachung Standard. Die Überwachungsaffäre wird nicht als bedrohlich empfunden, weil die Datenaufzeichnung längst klar war. Aus Sicht der Durchschnittsnutzer gibt es lediglich eine weitere Instanz der Auswertung. Und das ist irgendwie auch noch der Staat, der nur schwer als Bedrohung taugt in einem Land, in dem Staatsgläubigkeit quasireligiös daherkommt. Es ist ein essentieller Unterschied, ob ein Unternehmen Daten auswertet oder die Staatsgewalt Daten überwacht. Nur fühlt sich der Unterschied ohne Lehrgang in Netzbürgerkunde eben nicht besonders groß an. Daraus folgt eine simple Erkenntnis: Das politische Empfinden zur digitalen Sphäre breitet sich schmerzhaft langsamer aus als die Nutzung des Internets. Die Werte einer digitalen Demokratie entstehen nicht von allein, nur weil eine demokratische Gesellschaft digitaler wird. Wenn also die staatliche Netzspionage keinen Aufruhr verursacht, ist es gleichzeitig beunruhigend wie auch eine Chance, dass die Vollüberwachung inzwischen kein Skandal für sich mehr ist. Die Spähaffäre hat sich verwandelt, und zwar in ein Symptom für die Verdorbenheit der beteiligten Regierungen. In Deutschland setzt das Kabinett gezielt Desinformation und Unwahrheiten zur Beschwichtigung ein. In den USA tut Präsident Obama in Bürgerrechtsfragen exakt das Gegenteil von dem, was er vor Amtsantritt versprach, und fördert eine phantasmagorische Überwachungsmaschinerie. Britischer Abschied von demokratischen Grundsätzen Großbritannien aber ist der Ort der derzeit katastrophalsten Ausprägung. Premierminister Cameron kämpft aktiv gegen die Pressefreiheit: Alan Rusbridger, Chefredakteur des "Guardian", beschreibt, wie Regierungsstellen ihn aufforderten, die Berichterstattung zur Spähaffäre einzustellen. Das bedeutet nichts weniger als den Abschied der britischen Regierung von demokratischen Grundsätzen. Die offenbar von Cameron gesandten Beamten zwangen den "Guardian" außerdem, Festplatten und Computer zu vernichten, auf dem sich von Snowden geleaktes Material befand. Angesichts der Kopien ein symbolischer Akt - aber zugleich die nächste Eskalationsstufe: Der ertappte, staatliche Überwachungsapparat schlägt auf eine Weise zurück, die nicht nur der Demokratie unwürdig, sondern schlicht antidemokratisch ist. Automatisch ergibt sich die Frage, ob die Öffentlichkeit - die auch in Großbritannien nicht gerade wutentbrannt auf die Spähaffäre reagierte - auch dann noch unbeeindruckt ist, wenn es nicht mehr "nur" um Privatsphäre im Netz geht. Sondern um demokratische Grundwerte wie Pressefreiheit und Meinungsfreiheit. Spätestens wenn solche Entwicklungen nach Deutschland schwappen, wird sich zeigen, ob die obige These zum Internet stimmt und der Grund für das Ausbleiben des Empörungszugs bloß die "verspätete Bereitstellung" ist. tl;dr Die demokratischen Werte einer digitalen Gesellschaft entstehen nicht von allein dadurch, dass eine Demokratie immer digitaler wird. Leider.
Posted on: Tue, 20 Aug 2013 14:33:01 +0000

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