278 Tote in Ägypten: Ausnahmezustand Polizei räumt Protestlager - TopicsExpress



          

278 Tote in Ägypten: Ausnahmezustand Polizei räumt Protestlager der Islamisten – Reisewarnung aus Berlin Kairo (dpa). Nach der gewaltsamen Räumung islamistischer Protestlager in Kairo mit 278 Toten gilt in Ägypten für einen Monat der Notstand. Bei den schweren Unruhen im ganzen Land wurden nach offiziellen Angaben etwa 2000 Menschen verletzt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, die USA und die EU verurteilten die Gewalt. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) zeigte sich besorgt. Der Nobelpreisträger Mohammed El-Baradei legte am Abend sein Amt als Vizepräsident nieder. Er wolle nicht länger die Verantwortung für Entscheidungen tragen, mit denen er nicht einverstanden sei. Nachdem die Polizei die Anhänger des vor sechs Wochen gestürzten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi aus den Protestlagern vertrieben hatte, stürmten Demonstranten öffentliche Gebäude in mehreren Provinzen. Daraufhin rief Übergangspräsident Adli Mansur den Notstand aus. Dieser ermöglicht Razzien und Festnahmen ohne gerichtliche Anordnung. In Kairo und anderen Provinzen wurde eine Ausgangssperre von 21 Uhr bis 6 Uhr verhängt. Die Polizei setzte bei der gewaltsamen Räumung der beiden Protestlager erst Tränengas ein. Die Islamisten gingen mit Steinen und Flaschen auf Sicherheitskräfte los, später wurde von beiden Seiten scharf geschossen. Nach Angaben des ägyptischen Innenministeriums wurden 43 Polizisten getötet, mehr als 200 seien verletzt worden. Auch ein Kameramann des britischen Senders Sky News wurde erschossen. Nach Beginn der Räumung kam es in mehreren Provinzen zu gewalttätigen Übergriffen radikaler Islamisten. Auf dem Sinai stürmten bewaffnete Männer öffentliche Gebäude. In Oberägypten griffen Islamisten nach Darstellung christlicher Aktivisten vier Kirchen an. In der Innenstadt von Luxor protestierten 300 Demonstranten gegen die Polizeigewalt. In Marsa Matruh geriet das Justizgebäude bei Straßenschlachten zwischen Mursi-Anhängern und der Polizei in Brand. Wütende Islamisten stürmten laut Staatsfernsehen ein Gebäude der Militärpolizei. Das Innenministerium ordnetevorübergehend die Einstellung des Zugverkehrs von und nach Kairo an, um die Bewegungsfreiheit von Protestgruppen einzuschränken. Die Islamisten hatten die Zeltlager in Kairo vor fünf Wochen errichtet, um Mohammed Mursis Wiedereinsetzung zu erzwingen. Das Militär hatte den Präsidenten nach Massenprotesten abgesetzt. Ein Großteil der Demonstranten hatte sich in Sicherheit gebracht, als am Morgen ein Großaufgebot der Polizei mit Tränengas-Granaten anrückte. Andere Mursi-Anhänger leisteten erbitterten Widerstand. Nach den Ausschreitungen hat das Auswärtige Amt seine Teilreisewarnung für Ägypten aktualisiert. Es rät von Reisen in das nordafrikanische Land ab, insbesondere in das Nildelta, nach Kairo, Oberägypten und auf den Sinai. Dies gelte nicht für die Touristengebiete am Roten Meer und auf der Sinai-Halbinsel. Allerdings verhängte die ägyptische Regierung Ausgangssperren auch für Scharm el Scheich und Nuwaiba. Touristen müssten nicht mit Stornokosten rechnen, wenn sie ihren Urlaub in Ägypten absagen, sagte der Reiserechtler Paul Degott. »In so einer Situation kann man niemandem zumuten, dass er noch in Ägypten Urlaub macht«, sagte er. Seite 4: Kommentar Totalschaden Das schlimmste absehbare Scheitern des arabischen Frühlings ist eingetreten. Die einen wollten Blut, die anderen konnten nicht ohne, und ganz Ägypten ist auf das Schwerste beschädigt. Seit Tagen war das beinharte Vorgehen der Militärs gegen Mursis fanatische Anhänger absehbar. Die Islamisten hätten die Zusammenstöße auch vermeiden können. In aufgeklärten Gesellschaften heißt so etwas: Der Klügere gibt nach. Aber auch die Militärs haben nie gelernt, Widerspenstige zu zähmen. Zwischen Drohung und Schusswaffeneinsatz gibt es für sie kaum Spielraum. Deeskalation und kluge Polizeiführung sind im Land von Knute und Knechtschaft unbekannt. Formal bleibt es dabei, dass ein demokratisch gewählter Präsident mit Gewalt abgesetzt wurde. Aber dessen Muslimbrüder haben auf der Straße und in Regierungsämtern gezeigt, was sie von Demokratie und Rechtsstaat halten. Gar nichts. Die Militärs führen ihren Putsch konsequent weiter. Ob aber der nächste Schritt, die Übergabe der Macht an wirklich demokratische Parteien und Gruppen, jetzt noch gelingen kann, ist äußerst zweifelhaft. Reinhard Brockmann Hintergrund Außer Kontrolle Gewaltexzesse auf beiden Seiten vertiefen die Spaltung in Ägypten Kairo (dpa). »Der Tapfere ist tapfer und der Feigling ist feige«, ruft der islamistische Prediger Safwat al-Hegasi von der Tribüne im Protestlager vor der Rabea-al-Adawija-Moschee in Kairo. Dann bricht die Hölle los. Hunderte von Demonstranten fliehen, während die Polizei Tränengas-Granaten auf das Zeltlager abfeuert. Steine prasseln wie Hagelkörner auf die schwarzen Helme der Einsatzkräfte der Ordnungspolizei. Die ersten Schwerverletzten werden in ein Feldlazarett getragen. Die Polizei ist überrascht vom heftigen Widerstand der Islamisten, die auch Schusswaffen einsetzen. Sie erhält Unterstützung von der ägyptischen Armee, die das Geschehen in den Zeltlagern von Helikoptern aus beobachtet. Am Nachmittag gerät die Situation schließlich völlig außer Kontrolle. Der Stadtteil Nasr-City wird zum Schlachtfeld. In dem dicht bevölkerten Wohngebiet wird scharf geschossen. In den umliegenden Straßen formieren sich währenddessen Bürgerwehren von Anwohnern, die Holzlatten tragen. Sie wollen verhindern, dass ihre Geschäfte und Wohnhäuser bei den Zusammenstößen zwischen den Islamisten und Polizisten beschädigt werden. Sechs Stunden nach Beginn des Polizeieinsatzes in Kairo hat die Polizei den Al-Nahda-Platz im Stadtteil Giza geräumt. Das Protestlager in Nasr-City ist auf einen kleinen Platz vor der Moschee zusammengeschrumpft. Hier errichten junge Männer in Windeseile neue Barrikaden aus Sandsäcken und Schrott. Plötzlich greifen die gewaltsamen Proteste dann auf andere Landesteile über. In einigen Provinzstädten stürmen Islamisten öffentliche Gebäude. Ihre Aktionen wirken nicht spontan, sondern zentral organisiert. In Al-Arisch rücken die Islamisten sogar mit Waffen an. In Oberägypten brennen Kirchen. Diese Sabotageakte dürften nicht dazu angetan sein, das »Märtyrer-Image« zu stärken, das die Muslimbrüder seit der Entmachtung ihres Präsidenten Mohammed Mursi pflegen. Doch was passiert, wenn die zerfetzten Protestzelte auf den Müllhalden liegen und die Toten begraben sind? Möglich ist, dass sich zumindest ein Teil der Islamisten wieder in den Untergrund zurückzieht und Anschläge verübt, so wie in den 90er Jahren. Die von westlichen Regierungen angemahnte Versöhnung zwischen den Islamisten und den Unterstützern der Übergangsregierung erscheint im Moment unwahrscheinlicher als jemals zuvor. Und auch die Begeisterung vieler Ägypter für die Militärführung hat an diesem schwarzen Mittwoch einen Dämpfer erhalten. Als Übergangspräsident Adli Mansur den Notstand ausruft, fühlen sich einige an die Ära von Präsident Husni Mubarak erinnert. »Wir müssen uns gegen die Zerstörung staatlicher Institutionen wehren«, erklärt der ehemalige Präsidentschaftskandidat Amre Mussa. Er sieht in den Muslimbrüdern Störenfriede, die nach dem Sturz Mubaraks 2011 durch geschicktes Taktieren die Ernte der jugendlichen Revolutionäre einfahren konnten. Die moderaten Islamisten der Partei Starkes Ägypten beklagen dagegen vor allem das gewaltsame Vorgehen der Polizei. Dadurch seien »alle Bemühungen um Versöhnung zunichtegemacht worden«, kritisiert die Partei. Damit empfiehlt sich ihr Vorsitzender Abdel Moneim Abul Futuh, der bei der Präsidentenwahl 2012 ebenfalls unterlegen war, als Kompromisskandidat für die nächste Wahl. Doch diese Rechnung geht vielleicht ebenso wenig auf wie die Rechnung der Muslimbrüder, die nach Mursis Entmachtung mit ihrer Totalverweigerung alles auf eine Karte gesetzt hatten. Und welche Reakation kommt aus dem Westen? Die Europäische Union verurteilt die Eskalation der Gewalt und ruft die Sicherheitskräfte zur Mäßigung auf. Die Rechte aller Bürger auf Meinungsäußerung und friedlichen Protest müssten gewahrt bleiben, verlangt die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Der stellvertretende Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest, rügt den Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten und die Verhängung des Notstands auf das schärfste. Die andauernde Gewalt werde den Weg zu einer stabilen Demokratie nur erschweren, sagte Earnest. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) appelliert an die Übergangsregierung, für eine Beruhigung der Lage zu sorgen. Die islamisch-konservative Führung der Türkei verurteilt den Einsatz der Sicherheitskräfte gegen Islamisten als »völlig inakzeptabel«. Der Einsatz öffne die Tür zu einem sehr gefährlichen Weg, sagt Staatspräsidenten Abdullah Gül. Westfalen-Blatt vom 15.08.2013
Posted on: Thu, 15 Aug 2013 03:25:20 +0000

Trending Topics



Recently Viewed Topics




© 2015