Elternhaus und Kindheit Mein Geburtsort Glesch liegt etwas - TopicsExpress



          

Elternhaus und Kindheit Mein Geburtsort Glesch liegt etwas abseits der Hauptverkehrswege im Süden der niederrheinischen Tiefebene, etwa in der Mitte der Luft-linie Köln—Jülich. Ganz in der Nähe fließt die Erft von der Eifel her dem Rhein bei Düsseldorf zu. Noch heute steht am Rande des Dorfes das kleine Lehmfachwerk-haus, in dem ich das Licht einer Welt erblickte, die von Not und Ar-mut geprägt war. Die Landwirtschaft vermochte nur eine begrenzte Kopfzahl zu ernähren. Hier gab es auch noch keine Industrie — die größte Energiequelle Europas, die riesigen Braunkohlenlager, wurde erst um die Jahrhundertwende gefunden und erst dann den vielen Männern, meist mit kinderreichen Familien, die Möglichkeit geboten, sich im Tagebau ihr Brot zu verdienen. Das Haus, in dem ich mein erstes Lebensjahr verbrachte, hatte mein Großvater mütterlicherseits, Gerhard Marx, selbst gebaut. Der knorri-ge, wortkarge Kriegsveteran war für uns alle die Respektsperson : ernst, sehr genau, sparsam und absolut zuverlässig. An Feiertagen trug er das Band des Eisernen Kreuzes, das er sich im Feldzug gegen Frankreich 1870/71 in der Schlacht bei Saint-Quentin verdient hatte. Auf dem Taufschein war sein Name noch mit » cks « — Marcks — eingetragen, was seinem praktischen Denken widersprach. So ließ er die drei Buchstaben kurzerhand durch ein »x « ersetzen. Sein Schicksal war typisch für die herrschenden Verhältnisse jener Zeit. Zusammen mit zwei Brüdern hatte er im Geschäft seines Vaters das Dachdeckerhandwerk erlernt. An fast allen Kirchtürmen der Um-gebung hatte er mitgearbeitet. Als kaum noch Aufträge kamen und weit und breit keine Arbeit mehr zu finden war, wanderten alle seine sieben Brüder nach Amerika aus. Nur der jüngste Sohn Gerhard, mein Großvater, blieb mit seiner Schwester Christine bei den Eltern zurück. Er war ein recht eigenwilliger Dickschädel, der mich durch die Härte gegen sich selbst, sein Pflichtbewußtsein und seine präzise Arbeits-weise beeindruckte und dadurch mein großes Vorbild wurde. Als Schuljunge verbrachte ich noch die Sommerferien bei ihm und meiner Großmutter Annemarie, die das Leben von der leichten Seite nahm; Sie war fröhlich, gütig und voller Humor. Man sagte, sie sei einmal das schönste Mädchen des Dorfes gewesen. Ich fühlte mich wohl in ihrer Nähe; ich liebte sie. »Bitte, erzähle mir von deinen Kriegserlebnissen«, bat ich den Großvater oft. Doch er schüttelte nur verneinend den Kopf. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Jeder tat seine Pflicht für das Vaterland. Zwölf Männer von Glesch waren im Krieg, drei kamen nicht zurück.« Wir hätten zu gern ein Bild von ihm besessen, aber er lehnte den Gang zum Fotografen als »eitles Gehabe« ab. Erst als er schon sehr krank war und sein Ende kommen fühlte, ließ er sich dazu bewegen, ein Foto von sich machen zu lassen. Meine Mutter behauptete später des öfteren, ich hätte eine Menge seiner Charaktereigenschaften ge-erbt. Sie war die Erstgeborene der zehn Marx-Kinder, und oft kam es vor, daß sie hungrig an die Arbeit ging. Wie sollte man auch alle Mäuler stopfen, wenn der Ernährer nur ein kleines Einkommen hatte? So gesehen, war es ein günstiger Zufall, daß sich meine Mutter mit 18 Jahren als Hausmädchen in einem Kölner Patrizierhaus verdingen konnte. Dort würde sie die »feine Küche« erlernen, und zu Hause war ein Esser weniger am Tisch. In der vornehmen Umgebung lernte Katharina die gepflegten Sitten und Gebräuche wohlhabender Leute kennen. Für das junge Mädchen, das nie aus dem Dorf herausgekommen war, müssen die Eindrücke in der Weltstadt am Rhein überwältigend gewesen sein. In Glesch hatte es nur zweimal im Jahr, bei der Kirmes und zum Schützenfest, Tanz-musik gegeben. Hier in Köln aber konnte sie jeden Sonntag zum Tanz gehen. Natürlich nicht allein, die Hausmädchen, ausschließlich vom Lande, gingen zu zweit oder in kleinen Gruppen. Man erzählte später, daß meine Mutter immer die meisten Tänzer hatte und es sich leisten konnte, viele Einladungen auszuschlagen. Sie arbeitete und wohnte schon fast ein Jahr bei der angesehenen Familie am Neumarkt, als sie einem jungen Mann begegnete, der ihr durch sein Auftreten und seine feine Art imponierte. Der 23jährige gutaussehende blonde Jüngling, August Fieseler, eroberte ihr Herz im Sturm. Das junge Paar, glaubte, wie geschaffen füreinander zu sein. Wer war dieser August Fieseler, der mein Vater werden sollte? Bei der Rückkehr der deutschen Armee im Jahre 1871 aus Frank-reich übernahm ein preußischer General wieder sein früheres Be-zirkskommando in Koblenz. Schon bald lernte er eine junge, hübsche Witwe kennen, die nach dem Tode ihres Mannes, eines Hoteliers, den Betrieb allein weiterführte. Die beiden freundeten sich an, aus Zunei-gung wurde Liebe. Das Verhältnis des Generals mit der schönen und viel jüngeren Frau blieb nicht ohne Folgen. Warum keine Heirat den Bund besiegelte, ist ein Rätsel geblieben. Die werdende Mutter verließ unter dem Vorwand einer Krankheit die Stadt und fuhr nach Remagen, wo niemand sie kannte. Fünf Mo-nate später, am 10. November 1872, schenkte sie einem Knaben das Leben. Sie gab ihm die Vornamen seines Vaters und ihren eigenen Familiennamen : Friedrich August Fieseler. Nach dem alten, noch immer geltenden napoleonischen Gesetz, dem Code civil, durfte im Rheinland bei unehelich geborenen Kindern der Name des Vaters nicht registriert werden. Der Säugling blieb bei der Hebamme, Frau Jonen, in Remagen, während die Mutter wieder nach Koblenz fuhr und sich um ihr Hotel kümmerte. Doch die starken seelischen Belastungen hatten die Ge-sundheit der jungen Frau untergraben. Schon ein Jahr nach der Geburt von August trug man sie zu Grabe. Sie hat ihr Wort gehalten — der Name des Vaters blieb geheim. Die Hebamme, Tante Jonen, war die einzige Vertraute der Mutter gewesen. Sie behielt das Kind bei sich und erzog es, so gut es ihr Be-ruf zuließ. Dem kleinen August aber fehlte die Nestwärme. Als er vier oder fünf Jahre alt war, besuchte ihn ein Herr, streichel-te ihn und schenkte ihm eine Goldmünze. Der Besuch wiederholte sich in unregelmäßigen Abständen, bis er etwa acht Jahre alt war. Ei-nes Tages nahm Tante Jonen ihn bei der Hand und sagte traurig : »Mein Junge, der Herr, der dich besucht hat, war dein Vater. Er kann nun nicht mehr kommen, er ist gestorben.« Diese Begebenheiten haben einen so starken Eindruck auf meinen Vater gemacht, daß ich in meiner Jugend dauernd von seinem »vor-nehmen« Vater zu hören bekam, der ihn im schwarzen Gehrock und Zylinder in Remagen besuchte. Er war groß und trug eine Brille, mehr wußte August Fieseler nicht von ihm. Und dennoch galt ihm wohl insgeheim des Sohnes ganze Verehrung. Als August zehn Jahre alt war, traf ihn ein weiterer Schicksals-schlag. Tante Jonen, inzwischen Witwe geworden, erkrankte an einem unheilbaren Leiden. Bevor sie starb, erzählte sie dem Jungen die Ge-schichte seiner Eltern. Den Namen des Vaters jedoch nahm sie mit ins Grab. Der zehnjährige August wurde von der Fürsorge zu Pflege-Eltern nach Bonn gegeben. Der Pflegevater war ein Grobian. Er kam am Zahltag betrunken nach Hause und verprügelte seine Frau und das Kind. Auch in der nächsten Familie erging es August nicht besser. Er mußte mit den Kindern aus der Nachbarschaft Tüten kleben und sie in den Läden der umliegenden Dörfer verkaufen. Bei Wind und Wetter zog er mit einem Karren, der von einem Hund gezogen wurde, in der Gegend herum. Brachte er zu wenig Geld mit nach Hause, gab es Schläge. Immer litt er unter Hunger. Für ein Stück Brot war er bereit, den Mitschülern bei den Schulaufgaben zu helfen. Mit 14 Jahren, gleich nach der Schulentlassung, kam er zu einem Buchdrucker in Andernach in die Lehre. Nach der Zeit des Darbens in Bonn konnte der junge Buchdruckerlehrling aufatmen. Es gab genü-gend zu essen, ein sonniges Zimmer im Haus des Prinzipals, das Au-gust zusammen mit einem anderen Lehrling bewohnte, und nicht zu-letzt die Vorzüge eines geregelten Familienlebens. Der Chef erkannte in dem verschüchterten neuen Lehrling schnell einen aufgeweckten Jungen, der sich als fleißig, strebsam und anstellig erwies. Nach kur-zer Zeit hatte auch die Chefin den Waisenjungen in ihr Herz geschlos-sen und bemutterte den körperlich Zurückgebliebenen, der nur lang-sam seine Scheu verlor. In der vierjährigen Lehrzeit wurde er mit allen Arbeiten vertraut, die in einer Buchdruckerei anfallen. Ein Lehrling galt damals als bil-ligste Arbeitskraft, also mußte er auch Kohlen aus dem Keller holen, Heizöfen bedienen, Betriebsräume säubern, Maschinen putzen und Botengänge erledigen. Genauso war es auch noch in meiner eigenen Lehrzeit. Der Gehilfe August Fieseler blieb noch ein weiteres Jahr bei sei-nem Lehrherrn, ehe er in Trier die zweijährige Militärzeit abdiente. Der Kompaniefeldwebel war ein »Leuteschinder« schlimmster Sorte. Die Zustände beim preußischen Kommiß müssen nach den Erzählun-gen meines Vaters schrecklich gewesen sein. Aus dem Trierer Infan-terieregiment desertierten jährlich vier bis sechs Soldaten über die na-he Grenze nach Luxemburg, wo viele von ihnen zur Fremdenlegion angeworben wurden. Der Grund lag hauptsächlich in den körperlichen Mißhandlungen, denen die Soldaten ausgesetzt waren. Mein Vater war dieser Willkür nicht gewachsen. Schon nach 15 Monaten kam er mit einer Nervenkrankheit in ein Lazarett, Monate später wurde er wegen Dienstuntauglichkeit entlassen. Nach gründli-chen militärärztlichen Untersuchungen wurde ihm eine lebenslängli-che Rente zugesprochen, von der er mit Mühe ein möbliertes Zimmer mit Frühstück bezahlen konnte. Nun wieder allein auf sich gestellt, entschloß sich August, nach Andernach zu fahren, wo er fünf arbeitsreiche, aber geordnete Jahre erlebt hatte. Zu seiner Überraschung empfing ihn sein früherer Lehr-herr so herzlich, als sei sein eigener Sohn heimgekehrt. Hier wurde er wirklich ernstgenommen, war ein Mann, den man schätzte und aner-kannte. Der Hausherr schien es kaum erwarten zu können, ihm am gedeckten Kaffeetisch eine Neuigkeit mitzuteilen : »Gut, daß du gekommen bist. Sicher hast du gespürt, daß dich Gu-tes erwartet !« Mein Vater muß reichlich dumm dreingeschaut haben, als sein frü-herer Chef fortfuhr : »Ein Notar aus Frankfurt hat mir mitgeteilt, daß du eine Erbschaft zu erwarten hast. Am besten, du reist gleich hin !« In Frankfurt eröffnete ihm der Notar, daß er nach Vollendung sei-nes 21. Lebensjahres ein Barvermögen von 100000 Mark erhalten werde. August glaubte nicht richtig gehört zu haben, aber es wurde ihm schriftlich bestätigt. Nebenbei erfuhr er bei dieser Gelegenheit, daß in Frankfurt noch eine verheiratete Schwester seiner Mutter lebte, die aber mit der Erbsache nichts zu tun hatte. August hatte also oben-drein noch eine Tante »geschenkt« bekommen, mit der er über die Mutter sprechen und von der er sich manche Rätsel der Kindheit er-klären lassen konnte. Kein Zweifel, daß ihm die große Geldsumme von seinem Vater tes-tamentarisch hinterlassen worden war. Der Namenlose schien sich doch einer gewissen Schuld bewußt gewesen zu sein, die er auf diese Weise abtragen wollte. Mein Vater wich später allen Fragen aus, die seine Frankfurter Zeit nach Auszahlung der Erbschaft betrafen. Es war, als bedrücke ihn die Erinnerung daran, obwohl dieses große Geschenk doch für ihn eine Chance und ein Ausgleich für die Unbill seiner harten und lieblosen Jugend gewesen sein mußte. Warum zog er sich so beharrlich in sich selbst zurück und erfand alle möglichen Ausreden, anstatt offen zu-zugeben, wie er das Kapital verbraucht hatte? Erst viel später, ich war schon über 30 Jahre alt, kam ich in einem Gespräch mit meiner Mut-ter auf dieses heikle Thema. »Ich will dir die Wahrheit nicht länger vorenthalten«, begann mei-ne Mutter. »Für einen Mann wie deinen Vater gab es nur eine Mög-lichkeit : Er setzte einzig und allein auf seinen Glücksstern. Zuerst richtete er sich in Frankfurts vornehmster Gegend eine Wohnung ein. Dann ließ er sich beschwatzen und beteiligte sich an fragwürdigen Unternehmen, die er nicht durchschaute. Da gibt es nichts zu beschö-nigen.« »Das verstehe ich nicht. Es war doch für ihn eine Möglichkeit, sich eine Existenz aufzubauen.« Meine Mutter zuckte nur mit den Schultern. Mir war klar, was sie dachte. Mein Vater hat nie eine Beziehung zu Geld gehabt. So hatte er das Erbe in erstaunlich kurzer Zeit verbraucht, vertan, bei Spekulatio-nen verloren. Mein Vater galt trotzdem als ein intelligenter Mensch. Oft hörte ich bewundernd zu, wenn er über Literatur, Kunst, Musik und Politik sprach. Vereine und Verbände wählten ihn zu ihrem Vorsitzenden. Er vermochte aus dem Stegreif, ohne Notizen, vor jeder Zuhörerschaft gehaltvolle und rhetorisch hervorragende Reden zu halten. Von Lam-penfieber keine Spur, er war seiner Sache immer sicher. Nur wenn es ums Geld ging, erwies er sich als völlig unfähig. Immerhin, August Fieseler zerbrach nicht an diesem Unvermögen. Nach dem Debakel in Frankfurt fand er eine Stellung als Schriftsetzer bei der Buchdruckerei Trapp in Köln. Sonntags traf er sich mit Katha-rina, meiner Mutter, und ich zweifle nicht daran, daß sie in ehrlicher Liebe miteinander verbunden waren. August war zwar wieder arm, aber das Schicksal hatte ihn mit einem Reichtum gesegnet, der mehr wert war als Geld : mit einer Frau, ohne die er sicherlich Schriftsetzer geblieben und niemals weitergekommen wäre. Aber wie der Mensch so ist : Er hat einen wertvollen Edelstein erworben und weiß es nicht. Jedenfalls erkannte mein Vater den Wert seiner Katharina zunächst nicht. Katharina war streng katholisch erzogen und ohne jede Lebenser-fahrung. Damals war die Jugend noch nicht » aufgeklärt«, wie man heute zu sagen pflegt. Sie konnte ihre natürlichen Triebe nicht begrei-fen und empfand sie als Sünde. Ein junger Mensch wurde einfach in die Strudel des Lebens mit seinen Tücken geworfen, so wie man einen jungen Hund ins Wasser wirft, ohne zu überlegen, ob er schon schwimmen kann. So geschah, was kommen mußte: Meine Mutter war eines Tages »guter Hoffnung«. Die näheren Umstände hat sie mir erst 36 Jahre später bei einem Besuch geschildert. Selbst zu diesem Zeitpunkt fiel es ihr noch schwer, die damaligen Erlebnisse zu schildern : »Du mußt wissen, ich liebte deinen Vater so stark, daß ich an die möglichen Folgen überhaupt nicht dachte. Erst nach drei Monaten begriff ich, daß ich ein Kind von ihm erwartete.« »Mich«, stellte ich fest. »Ja«, fuhr sie fort. »Ich reiste gleich nach Glesch und gestand mei-nen Eltern, was geschehen würde. Natürlich war mein sonst so ruhiger Vater außer sich. Ich habe ihn selten so zornig erlebt. Er deutete an, er werde mich verstoßen, wenn das Kind nicht ehelich zur Welt kom-me.« Sie war dem Weinen nahe. »Und deine Mutter?« »Sie berief sich auf die Moralgesetze, die man nicht ungestraft ü-bertreten dürfe.« Besonders schlimm muß es für meine Mutter gewesen sein, daß sich der Bräutigam in Schweigen hüllte. Wie ich ihren weiteren Schil-derungen entnahm, wartete sie täglich vergeblich auf einen Brief von ihm. Natürlich waren die Eltern über den als so redlich beschriebenen Schwiegersohn enttäuscht. Katharina begann, an seiner Liebe zu zweifeln, aber es widersprach ihrem Charakter und ihrer Erziehung, ihm zu schreiben und ihn zu bitten, zu ihr zu kommen. Zu jener Zeit bestimmte allein die Kirche, was gut und was schlecht war. Wie muß meine Mutter darunter gelitten haben ! »Mir wurde die Teilnahme an der Heiligen Messe und an der Kommunion versagt. Im Dorf war ich von vielen geächtet«, erzählte sie. Es gab auch einen Bürgermeister und den Gemeinderat. Oberste Instanz aber war der Herr Pfarrer. Er kannte alle, er wußte alles, er hatte die Zügel fest in der Hand. Der Gang zur Heiligen Messe war für alle Dorfbewohner Pflicht. Wer nicht erschien, hatte eine Todsünde begangen. Es gab Männer, denen der Kirchgang unsympathisch war : Sie blieben gleich hinter der Kir-chentür stehen und verstopften den Weg zu den noch freien Gängen und Bänken. Die Letzten blieben vor der halboffenen Kirchentür ste-hen, nahmen den Hut ab, legten die Hände zusammen und das Gesicht in fromme Falten. Man hatte seine Christenpflicht erfüllt und war doch bei den ersten, die wieder draußen waren. Es gab auch einige »Hartgesottene«, die nicht jeden Sonntag zur Kirche gingen. Sie wa-ren bekannt. Ihre Frauen hatten darunter zu leiden. Es war der Alltag, der die Menschen so hart gemacht hatte, der Kampf ums tägliche Brot. Von einem Achtstundentag hatte man da-mals noch nichts gehört, man arbeitete so lange, bis das überleben ge-sichert war. Die ganze Woche über war Vater Marx mit den beiden ältesten Söhnen unterwegs, um die Dächer der umliegenden Kirchen zu reparieren und die der wohlhabenden Bauern auszubessern. Nicht selten benötigten sie allein für den An- und Abmarsch vier bis fünf Stunden. Der Garten und das Vieh wurden von Großmutter Annema-rie betreut, wobei alle Kinder tüchtig helfen mußten. Mit den Schular-beiten nahm man es nicht so genau, wichtig war nur die Arbeit, die Erhaltung der nackten Existenz. Die Armut wurde gleichmütig, ohne Aufbegehren, als ein gottge-wolltes Schicksal angesehen. Arbeit für andere wurde mit einem Hungerlohn abgegolten — die Dorfschneiderin etwa, die größere Näharbeiten ausführte, bekam gerade soviel, daß sie leben konnte. Außer den drei, vier Großbauern hatte niemand mehr im Dorf, als er unbedingt brauchte. Man lief in Holzpantinen, den »Klumpen«, her-um, nur sonntags trug man Lederschuhe. Darin flanierte die Jugend nach dem Hochamt im Sommer auf der schattigen Allee zur Erft, um die Kühle des Flusses zu genießen, während die Männer eine der Wirtschaften auf suchten, die bereits eine Kegelbahn hatte. »Immer wieder habe ich mich gegen das mir zugefügte Unrecht aufgebäumt und mit meiner ganzen Kraft dagegen angekämpft«, sagte meine Mutter nach einer Weile und schloß unsere Unterhaltung mit den Worten : »Daß du so bist, so kämpferisch, so energiegeladen und manchmal so hart, das ist in meiner damaligen schweren Zeit in dich hineingeboren worden. Viel hast du bis heute erreicht, und ich weiß, du wirst noch mehr erreichen. Aber nie wirst du in deinem Leben zur Ruhe kommen. Immer schon wollte ich dir das sagen und dir erklären, warum du so ganz anders bist als alle deine Geschwister. « Mein Geburtstag war also kein Freudentag für die Familie. Ich wurde auf den Namen Gerhard Marx getauft, ein unehelicher Säug-ling, der aller Voraussicht nach ohne einen Vater aufwachsen würde. Er hatte kein Lebenszeichen mehr gegeben. Dann, als ich die ersten Schritte tun konnte, geschah das Unerwar-tete, an das niemand mehr geglaubt hatte. Eines Tages stand er plötz-lich vor mir und betrachtete mich mit sichtlicher Bewegung : mein Vater! Tränen standen in seinen Augen. Warum er nun auf einmal zu Katharina zurückgekehrt war, habe ich nie erfahren. Aus späteren Er-zählungen weiß ich, daß er bei meinem Erscheinen wie erstarrt ste-henblieb und mich entgeistert ansah. Einige Monate darauf wurde geheiratet, und ich erhielt den Namen meines Vaters : Fieseler. Das junge Paar war trotz der Armut glück-lich, sich endgültig gefunden zu haben. Meine Eltern pachteten in der Nähe von Glesch einen kleinen, verwaisten und ziemlich herunterge-kommenen Bauernhof. Die bisherige Bewohnerin, eine Witwe, war gestorben. Ihr Sohn lebte in der Stadt und überließ uns auch das kärg-liche Mobiliar. Wir hatten kein Geld für die nötigen Reparaturen, ob-wohl alles im Verfall begriffen war. Mein Vater gab die Versuche, im Garten mitzuhelfen, schnell wie-der auf. Dafür war er als Großstädter wenig geeignet. Für die Nach-barn blieb er stets ein Fremder, denn er fand trotz seiner Aufgeschlos-senheit keinen Kontakt zu ihnen. Endlich bekam er in dem Städtchen Bergheim, eine Stunde zu Fuß entfernt, Arbeit bei der dortigen Zei-tung als Schriftsetzer. Meine Mutter versorgte den Haushalt, das Kleinvieh — und mich.
Posted on: Fri, 26 Jul 2013 17:31:56 +0000

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