Leben in Zeitlupe ... bevor der Schmerz einen überschwemmt und - TopicsExpress



          

Leben in Zeitlupe ... bevor der Schmerz einen überschwemmt und einfriert. ---------------------- Erster Urlaubsmorgen. Die Vermieterin hat uns gestern darauf hingewiesen, dass die drei Treppenstufen zur Wohnung (polierter Granit) bei Regen glatt sind. Ich will den Anmeldezettel abliefern und bezahlen und habe meine Phylonlatschen an. Solche Kunststoff-Glogs, unheimlich praktisch. Bis auf einen Fakt: ist das Profil heruntergelaufen, werden sie selbst auf minimalen Feuchtigkeitsschichten zu regelrechten Gleitschuhen. (Vielleicht kennt noch jemand diese eigenartigen aber sehr coolen Blechkufen zum "unter die Schule schnallen" zum Fahren auf Schnee und Eis aus der DDR.) Im LIDL oder ALDI, wenn dort kurz vor Feierabend die Wischmaschinen durchfahren, bin ich mit diesen Latschen auf den Feuchtigkeitsfilmen schon ein paar Mal sehr schnell weggerutscht, habe aber nie den Halt verloren. Nun trete ich in genau diesen Schuhen auf die polierten und vom Sprühregen nassen Granitstufen, deren Feuchtigkeitsfilm sich mit dem darauf angesammelten Staub zu einer Art "Schmieremulsion" verbunden hat. Ich komme genau eine Stufe weit. Oder besser eine halbe. Als ich den Fuß auf der ersten Stufe von oben aufsetze und mit meinem kompletten Gewicht belaste, rutscht der schlagartig nach vorn weg. Wie mit einem Seil weggerissen. Ab diesem Moment erlebe ich subjektiv alles in der oft zitierten Zeitlupe. Zehntelsekunden als Auflösungsraster reichen nicht. Ich differenziere in hundertstel Sekunden. Ich registriere, dass ich keinen Bodenkontakt mehr habe und es entfährt mir ein "Scheiße!". Meine Arme bzw. Hände greifen haltsuchend nach links und rechts. Links ist ein Handlauf aus Beton ... in Oberschenkelhöhe. Wer baut solchen Bullshit? Gibts für Geländer einen Sinnhaftigkeits-TÜV? Das Ding hier ist jedenfalls reiner Zierrat! Im Fall eines Sturzes keine Hilfe ... meine linke Hand greift völlig ins Leere. Meine rechte Hand kriegt einen Fenstersims zu fassen, der ihr sofort wieder entgleitet. Es geht abwärts. Hoffnungslos. Ich weiß, dass ich jetzt aufschlagen werde und ich weiß, dass es extrem hart werden wird, weil ich mich 1. praktisch im freien Fall befinde und 2. über einer Steintreppe. (Das "überlege" ich tatsächlich so!) Zuerst setzt mein Arsch auf. Unterhalb der Treppe. Bei einem rückwärtigen Neigungswinkel meines Oberkörpers von etwa 60° zur Lotrechten bedingt dieser Arschaufsetzer keine nennenswerte Energieabsorption. Unmittelbar danach folgt der Haupteinschlag: Die kinetische Energie meines knapp 82kg schweren Körpers, der aus 1,78m minus der Höhe einer Treppenstufe ungebremst mit 1g, also 9,81 m/s2, herunterfällt, wird durch einen Aufschlag der linken Seite meines Rückens auf der Granitkante der zweiten Treppenstufe schlagartig abgebremmst und auf physikalischer Ebene in Verfomungsarbeit und Wärme, auf psychischer Ebene in Schock umgewandelt. Und zehntel Sekunden später auch noch in Schmerz. Vorher jedoch registriere ich den Einschlag. Es rumst, ich weiß, dass gleich höllischer Schmerz folgen wird. Ich stelle fest, dass ich keine Knackgeräusche wahrnehme und mein Realitätsgefühl ist mit einem Anflug dieses eigentümlichen traumartig-surrealen Empfindens überschattet, das viele aus ihrer Kindheit kennen, wenn sie damals einen Unfall hatten. Dann kommt der Schmerz. Er "kommt" nicht, er schießt ein. Mit Hochdruck. Er überschwemmt mich am ganzen Körper wie kalter, schwallartig über mir ausgeschütteter, frisch angerührter Beton. Drückt mich schwer zu Boden und friert mich augenblicklich in der aktuellen Position ein. Nichts geht mehr. Ich weiß nicht was kaputtgegangen ist, aber ich weiß: jetzt muss ich erstmal atmen. Ruhig, gleichmäßig, und ein paar Sekunden abwarten. Das mache ich. Von meinem normalen Atemvolumen stehen mir nur ca. 30% im Mittelteil zur Verfügung. Darunter oder darüber geht es nicht. Vor Schmerzen, vor Schock. Ich hoffe, dass es schnell wieder besser wird. Es wird nicht besser. Auf den rechten Ellenbogen gestützt hänge ich wie ein abgeworfener Kartoffelsack auf der Treppe. Wonni hat durchs Fenster mein gravitationsbedingtes Verschwinden gesehen und hat meinen Fluch und den Rums gehört. Sie ist sofort bei mir. Ratlos, doch wachsam und einsatzbereit. Ich gebe ihr gestisch zu verstehen, dass sie erstmal gar nichts machen soll. Ich versuche mich zu bewegen, es funktioniert prinzipiell. Die Nervensignale kommen unten an. Aber praktisch geht es im Moment noch nicht. Es ist ein Schmerz, der meine Atmung einpresst wie ein Schraubstock. Ich warte noch eine Weile ab, irgendwann kann ich mich auf die Seite rollen und wie ein plattgelatschter Käfer auf alle Viere und von dort auf zwei Beine kommen. Gebückt, verkrümmt und ächzend wie ein arthritischer 90jähriger schleppe ich mich flach pressatmend in die Wohnung. Sicher kein schöner Anblick. Aber das Ereignis gerade, hatte es wirklich in sich. Ich packe mich vorsorglich erstmal aufs Bett, falls der Kreislauf verrückt spielen sollte. Das macht er (wohl auch wegen dieser Maßnahme) jedoch nicht. Der Schmerz senkt sich auf ein Maß, das gerade so auszuhalten ist. Aber dort gräbt er sich ein, frisst sich fest, und bezieht Dauerstellung. Das spüre ich unmissverständlich: das geht nicht so schnell wieder weg. Der Schock sitzt tief in der Substanz, meine Stimme flattert leicht. Atmen tut weh. Tief einatmen geht nicht. Jede Bewegung des Körpers tut weh. Es ist, als hätte mir jemand ein 120er HT-Abflussrohr von hinten durch den Brustkorb getrieben. Es ist ein definiert begrenzter Tunnel, in dem der Schmerz kontinuierlich rumort und losrast sobald ich mich ansatzweise bücke oder meinen Oberkörper verdrehe. (Wer Lust hat, kann es sich mal vorstellen: sich vor einer Treppe stehend rückwärts fallen zu lassen und mit dem Rücken auf EINE Stufenkante aufzuschlagen.) Wenig später taste ich meine Rippen ab. Wenn etwas gebrochen wäre, würde ich bei Berührung der Stelle die Wände hochgehen. Das ist nicht der Fall. So, genug gejammert. Ich hatte mal wieder unheimliches Glück im Unglück. Dass ich mir keine Rippe gebrochen habe ist bei dem Einschlag fast ein Wunder. Dass es nicht mein Schulterblatt getroffen hat, ein riesen Glück! Und wenn ich nicht linksseitig, sondern mittig aufgeschlagen wäre und es die Wirbel erwischt hätte ... ich will das gar nicht zuende denken. :( Ich setze meinen, vom Zusammenwirken unzuverlässiger Haftreibung und zuverlässiger Schwerkraft gewaltsam unterbrochenen, Weg fort und gehe, wie ein Rentner, Pflegestufe 1, aber aufrecht, zur Vermieterin, regele die Formalitäten und lege ihr nahe, auf den Stufen Matten auszulegen, ehe einem Gast noch Schlimmers passiert. Der Rest des Tages ist bestimmt von Unlust zu jeder Bewegung. Rücken tut weh, bücken tut weh, linken Arm heben tut weh, Auto einsteigen tut weh, Auto aussteigen tut weh, lenken mit dem linken Arm tut weh, tief durchatmen tut weh, hinsetzten tut weh, aufstehen tut weh... Da kriegt man einen Vorgeschmack wie sich alte Leute fühlen, die sich nicht mehr schmerzfrei bewegen können und klagen, dass ihnen "alles wehtut". Trotzdem war der Tag sehr schön! Diese Einzelheiten unterschlage ich jetzt mal, aber wir haben viel erlebt und den Tag optimal genutzt. Ich hoffe morgen ist es besser, spätestens übermorgen, wenn hier oben die Sonne bei angesagten satten 22°C wieder wolkenlos auf die Ostsee herunterlachen wird.
Posted on: Wed, 04 Sep 2013 02:38:35 +0000

Trending Topics



Recently Viewed Topics




© 2015