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Sehr zu empfehlender Kommentar von Matthias Iken im heutigen Abendblatt: Sie ist wieder eingeschlafen, unsere Schöne Fast 80 Prozent der Hamburger finden, die Hansestadt dürfe nicht weiter wachsen. Doch diese Selbstzufriedenheit ist gefährlich MATTHIAS IKEN Narziss ist Hamburger. In der griechischen Mythologie verliebt sich der Sohn des Flussgottes Kephissos in sein Spiegelbild. Wer das typische Hamburg-Bild vom Jungfernstieg sieht, der sich in der Binnenalster spiegelt, und dann noch den Hamburgern lauscht, ahnt, wer heutzutage selbstverliebt ist. Auch das Ergebnis des Fragebogens, den das Abendblatt vor Kurzem gedruckt hat, zeitigt ein ähnliches Ergebnis. 79 Prozent der Teilnehmer wollen Hamburg nicht weiterwachsen sehen, eine Zweidrittelmehrheit meint zudem, zwei Millionen Einwohner seien für die Stadt nicht verkraftbar. 84 Prozent halten die Verdrängung bestimmter Bevölkerungsgruppen aus bestimmten Stadtteilen für ein Problem. Und, natürlich, Hamburg ist so toll, dass schon die Frage nach einem Vorbild als Majestätsbeleidigung empfunden wird. Ist das noch Lokalpatriotismus oder schon anmaßende Selbstüberschätzung? Natürlich, Hamburg ist eine wunderschöne Stadt, in der es sich prima leben lässt. Hamburg ist eine wohlhabende Stadt, die in der Vergangenheit viele richtige Entscheidungen getroffen hat. Und Hamburg ist eine Stadt, die vielen Bewohnern enorme Möglichkeiten eröffnet. Aber Hamburg ist nicht am Ende seiner Geschichte angekommen – und darf niemals fertig sein. Auch auf die Gefahr hin, die großartige Liebeserklärung von Helmut Schmidt ein weiteres Mal zu zitieren, es sei noch einmal gesagt: „Aber ich liebe (die Hansestadt) mit Wehmut, denn sie schläft, meine Schöne, sie träumt; sie ist eitel mit ihren Tugenden, ohne sie recht zu nutzen; sie genießt den heutigen Tag und scheint den morgigen für selbstverständlich zu halten – sie sonnt sich ein wenig zu selbstgefällig und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein“, schrieb der Altkanzler am 29. Juli 1962. Mehr als 50 Jahre später hat sich an Alster und Elbe verdammt wenig geändert. Die größte Bedrohung für die Zukunft der Stadt ist diese Selbstzufriedenheit; der mangelnde Mut zum Experiment, die weitverbreitete Sehnsucht nach Ruhe, der sich im Kampf gegen Wohnungsbauten in der Nachbarschaft äußert, dieses strukturkonservative „Alles soll so bleiben wie es ist“. So kann man sowohl den Sieg der Netze-Initiative verstehen („Wir wollen unsere alte HEW wiederhaben“) als auch diesen verbiesterten Widerstand gegen jeden Wandel im Stadtteil, der gleich mit dem Schlagwort Gentrifizierung niedergemacht wird. Drolligerweise kommt die schärfste Kritik am Wandel oft von den letzten Zuzüglern, die selbst den Stadtteil aufgewertet haben. Bei aller gebotenen Rücksicht auf die soziale Mischung eines Viertels: Wer möchte ernsthaft das verrottete Ottensen zurück, das verlotterte St. Georg, das verwahrloste Wilhelmsburg? Und natürlich muss die Stadt das Ziel haben zu wachsen. Wie befreiend war der Aufbruch Hamburgs als Wachsende Stadt, den der CDU-dominierte Senat nach 2001 mit Leben füllte? Wachstum ist nicht nur in der Biologie eine Grundvoraussetzung des Lebens, sondern auch für Städte. Die neue U-Bahn, der neue Abwasserkanal, der neue Theatersaal, die neue Grünanlage – sie basieren auf Wachstum. Viele Kommunen in Ostdeutschland, die den schmerzhaften Prozess des Rückbaus angehen müssen, hätten gern unsere Wachstumsschmerzen. Wer heute das Wachstum für beendet erklärt, wird morgen schrumpfen und übermorgen verfallen. Niemand wird in eine Metropole strömen, die sich selbst genug ist. Wer den Kampf um Talente gewinnen will, muss selbst gewinnen wollen. Man stelle sich vor, unsere Ahnen hätten einst die Stadt für groß genug erklärt. Hamburg wäre nie Hamburg geworden, sondern ein Winsen geblieben. Es ist auch keine Schande, von anderen Metropolen zu lernen. Ganz im Gegenteil: Das Bessere ist der Feind des Guten. Warum nicht die Förderung des Fahrradverkehrs von Kopenhagen übernehmen, das Münchner Lebensgefühl von Laptop und Lederhose oder die Aufgeschlossenheit von Barcelona? Allein die Diskussion über Verbesserungen hilft Hamburg weiter – was kann, was soll, was muss anders werden? Laut unserer Umfrage sagen 86 Prozent der Hamburger, die Stadt sei weltoffen. Es ist höchste Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen und Mut zur Veränderung zu haben. Und diese Stadt besser zu machen. Wolfgang Borchert sagte einst: „Hamburg, das ist unser Wille zu sein.“ Heute würde wahrscheinlich das Du-darfst-Motto an der Elbe mehrheitsfähig: „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ Das hätte vermutlich auch Narziss gefallen. Der Legende nach stürzte er ins Wasser, als er sein Spiegelbild küssen wollte, und ertrank.
Posted on: Mon, 07 Oct 2013 08:52:05 +0000

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