Ein wichtiger Beitrag von Frank Schirrmacher SONNTAG, 25. AUGUST - TopicsExpress



          

Ein wichtiger Beitrag von Frank Schirrmacher SONNTAG, 25. AUGUST 2013 FEUILLETON Wir wollen nicht Edward Snowden hat die Frage unserer Zeit gestellt: ob wir so leben wollen oder nicht. Big Data verändert unser Denken und Handeln radikal: „Wir können Dinge tun, die wir niemals tun konnten“ Von Frank Schirrmacher Am 9. Juni dieses Jahres machte der „Guardian“ die Identität Edward Snowdens in einem Interview öffentlich. In dem Gespräch begründete Snowden seine Aktion mit folgendem Satz: „Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage, aufgezeichnet wird.“ Nach allem, was man seither gelesen, gehört und gesehen hat, ist festzustellen, dass kein Wort an dieser Begründung falsch oder übertrieben war. Die offene Frage in der ganzen Snowden-Affäre, die wir und die Politik uns zu stellen haben, ist dieselbe, die Snowden stellte: ob wir in so einer Welt leben wollen oder nicht. Offenbar wollen wir. Bundesregierung und die Mehrheit der Bundesbürger haben sich gegenseitig versichert, dass sie nichts voreinander zu verbergen haben. Was immer die unsichtbare Hand der Geheimdienste und des Silicon Valley in irgendeiner elektromagnetischen Schicht an Insider-Informationen sammelt, dringt in den Augen der Bürger ins wirkliche Leben allenfalls als Buchempfehlung vor. Und weil Menschen, die die Aufregung um Snowden nicht gekauft haben, auch nicht eine Partei wählen, die damit Politik macht, hat auch keine Partei eine politische Antwort auf das Drama des überwachten Menschen wirklich im Angebot. Der „Like“-Button ist längst stärker als jedes Bundesverfassungsgerichtsurteil. Verdorben durch den Wahlkampf, der die Debatte zum reinen Stellvertreterkrieg machte, verwässert durch die nachgerade unverfrorenen Erklärungen, mit der die NSA relevante Informationen in einer Flut von Hintergrundrauschen ertränken wollte, verunsichert durch Snowdens vielleicht ausweglosen, aber angreifbaren Weg nach Moskau und verängstigt von der Gefahr, Terroristen in die Hände zu spielen, hat sich die Informationsgesellschaft offenbar mehrheitlich auf den Standpunkt gestellt, dass man nichts Genaues weiß und auch nie wissen wird und man im Übrigen nichts zu verbergen habe. Zu dieser Einschätzung trugen die offenbar falsche Zuordnung von 500 Millionen Telefonverbindungen in Deutschland ebenso bei wie jene Experten, die, manchmal sogar in der gleichen Person, Snowdens Enthüllungen zum alten Hut, zum Staatsgeheimnis oder zum schieren Missverständnis erklärten. Man versteht nach alledem, warum die Menschheit erst in der „Wissensgesellschaft“ angekommen sein musste, als sie im Jahre 2005 eine neue Wissenschaft erfand: die Agnotologie, die Analyse der systematischen Produktion von Nicht-Wissen. Sie hat einen entscheidenden Effekt auf das, was wir altertümlich politische Willensbildung nennen: Man kann gar nicht mehr sagen, was man will oder nicht. Es ist unmöglich, nachzuzeichnen, wie all die Bluffs, Ablenkungen, Fehler, Aufklärungen und Camouflagen, inklusive der Lügen vor dem amerikanischen Kongress, aus der „Debatte“, die sich nicht nur Snowden, sondern auch der amerikanische Präsident wünschte, eine Travestie machten. Es mag sein, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten noch von etlichen Programmen wie Prism hören werden und die Auseinandersetzung immer mehr zu einer operativen Frage geheimdienstlicher Strategien wird. Doch die eigentliche Erkenntnis, die Snowden mehr auslöste als dokumentierte, ist längst gewonnen: Wir erleben eine Veränderung der sozialen Ordnung in den westlichen Demokratien, die so grundsätzlich zu sein scheint, dass die „Beendigung der Debatte“ geradezu verantwortungslos wäre. Jeder konnte jetzt seine Meinung zu Edward Snowden und Moskau und einzelnen Programmen äußern. Vielleicht sollte man das allmählich bleiben lassen und insbesondere auf politischer und juristischer Ebene erkennen, dass der Souveränitätsverlust des Landes und Europas – nach der Eurokrise zum zweiten Mal in kurzer Zeit und, wie Christian Lindner und Sigmar Gabriel zu Recht in der F.A.Z. hervorhoben, durchaus aus den gleichen Gründen – nur ein Symptom für neue Machtverhältnisse ist. So wichtig es ist, Terror zu bekämpfen oder Cyberangriffe abzuwehren, so übereinstimmend reden die Experten davon, dass alle Überwachungssysteme, egal ob in China oder Russland oder Ägypten oder Amerika, gleich konstruiert sind. Die Proliferation der Technologie, vom „Wall Street Journal“ in erschreckender Detailgenauigkeit dokumentiert, wird ohne Zweifel auf politischer Ebene zu einem Rüstungswettlauf führen, in dem sich immer häufiger Überwachungssysteme (vom Cyberwar ganz zu schweigen) gegenseitig auszutricksen versuchen. Die Sache ist einfach: Einem trotz der Internetgiganten immer noch dezentralen Netz kann sich jederzeit ein Zentralgehirn zuschalten, das buchstäblich jede Lebens- und Geräteäußerung aufzeichnen, analysieren und vergleichen kann. Schon gibt es Andeutungen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zeitgemäß sei. Die Vision, dass selbst Grundrechte einem ständigen Update unterliegen und stets nur in der Betaversion vorhanden sind, ist so beklemmend, dass man sich wünscht, dass in der Debatte, die nicht nur die NSA, sondern Google, Facebook oder Apple umfassen müsste, sich endlich Verfassungsjuristen zu Wort melden. Von Unternehmen, die bereit sind, beispielsweise in China auf staatliche Anordnung das Wort „Demokratie“ aus Blogtiteln zu streichen, ist selbst wenig zu erwarten. Das neue Zeitalter von Big Data erschafft die größte Überwachungsmaschine, die es jemals gab. Es kommt in einer Erscheinungsform, für die wir keine kulturelle Prägung besitzen. Sie ist nicht vorhergesehen worden von Wissenschaftlern, nicht von Ingenieuren, nicht von Science-Fiction-Autoren, auch und vor allem nicht von George Orwell. Ihre Besonderheit besteht darin, dass Überwachung zum ökonomischen Rational schlechthin wird: Praktisch alle Märkte und Produkte werden ihre Konsumenten und Nutzer überwachen, sortieren und evaluieren. Die Algorithmen, die das tun, sind zum Großteil beliebig austauschbar: Ob man bei Amazon einkauft oder einen Menschen evaluiert, das ist kein fundamentaler Unterschied. Gus Hunt, der Cheftechniker der CIA und eine unschätzbare Quelle für die Dinge, die die NSA nicht sagen will (und die er jetzt vielleicht auch nicht mehr sagen würde), lobte beim „Amazon Web Service Summit“ im Jahre 2011, dass die „Märkte uns erlauben, Dinge mit Informationen zu tun, die wir niemals haben tun können“. Es ist eine Zivilisation, in der Realitäten entstehen, für deren Voraussage man vor zehn Jahren zum Therapeuten geschickt worden wäre: zum Beispiel die (in den Worten von Alex Pentland), dass unsere Kleidung, wenn man einen Raum betritt, „sofort weiß, was los ist und entsprechend reagieren kann“. Geprägt von den Spionage- und Orwell-Erzählungen des letzten Jahrhunderts, stellen sich viele den Vorgang als eine Art „Suche“ vor. Viel zutreffender aber ist das Bild eines gigantischen Hirns, das sich nur erinnern muss. Deshalb entstehen überall Datenspeicher in unfassbaren Dimensionen – das Pentagon beispielsweise, nur eine Regierungsbehörde unter vielen, wenn auch eine sehr datenintensive, baut eine Erweiterung seines Datenspeichers in einer Größe (Yottabytes), für deren nächsthöhere Dimension es noch gar kein Wort gibt. Solche Datenmengen lassen sich natürlich nur automatisiert verarbeiten, sortieren und, wie es die Finanzmärkte vormachen, in Vorhersagen umschreiben. Der rätselhafte Satz der NSA, sie habe nur einen Bruchteil der Daten „angefasst“ („touched“), ist deshalb auch keine Beruhigung, sondern eine Trivialität. Man darf sich die neue Welt nicht vorstellen als die Welt Hollywoods, in der der Detektiv unerbittlich einer Spur nachgeht, alles andere eliminiert und schließlich zum Ziel kommt. Was den Detektiv verwirren würde, ist das Lebenselixier der Überwachungs- und Vorhersagesysteme des neuen Zeitalters: Sie verbessern sich, je totaler, zufälliger und vielschichtiger die Daten werden. Sie brauchen im Idealfall alles. All das kann im Ernst nicht bezweifelt werden. Schon vor drei Jahren veröffentlichte das „Wall Street Journal“ eine grandiose Dokumentation über die Überwachungsindustrie – der auch Snowden angehörte –, die ihre Produkte in die ganze Welt, zuletzt nach Syrien, verkaufte. Facebook, so schrieb ein Autor, der die NSA-Aktionen quantitativ relativieren wollte, speichere pro Tag 20 Mal mehr reine Log Data, als die NSA insgesamt Daten speichere. Das war als Beruhigung gedacht. Dass es zutiefst verstörend ist, insbesondere wenn man weiß, dass die NSA auf die Daten zugreifen könnte und Facebook sie vermarkten und verkaufen kann, schien ihm kein nennenswerter Einwand zu sein. Gus Hunt hat auf dem Amazon-Gipfel erklärt, dass Daten nicht weggeworfen werden dürfen: Man weiß ja nicht, was sie in Zukunft bedeuten können: „Wir bewegen uns weg von dem Paradigma der Suche hin zur Korrelation von Daten im Voraus, um zu wissen, was passieren wird.“ Die Frage, warum das den Einzelnen beunruhigen sollte, ist damit noch nicht beantwortet. Vielleicht kann, da die Phantasie nicht ausreicht, der Blick auf Biotope helfen, in denen dieser „mindset“ bereits – oft völlig unbemerkt – in den Alltag integriert ist. Der Ökonom und Wissenschaftshistoriker Philip Mirowksi, einer der besten Kenner des Computers und seiner Mathematik, hat soeben in seinem neuem Buch „Never Let a Serious Crisis Go to Waste“ die Überwachungsalgorithmen bei normalen Kundenkreditvergaben in den Vereinigten Staaten analysiert. Er zeigt bestechend, wie das angeblich so fluide digitale Ich, das längst unser wirkliches zu ersetzen beginnt, in eine Matrix von Algorithmen evaluiert und risikobewertet wird, in der das empirische, wirkliche Ich keine Chance mehr hat. Die „New York Times“ hat in einer aufregenden Reportage Obamas letzten Wahlkampf analysiert. Sie beschreibt die Rolle der Quants, der mathematischen Köpfe hinter den neuen Verfahren, die über exzessive Überwachungsstrategien in Facebook Wählen gewinnen, indem sie Politik selbst verändern: Die Politik, die aus zivilen Überwachungsmärkten entsteht, will niemanden mehr überzeugen und viele auch gar nicht mehr erreichen. Sie weiß, was „Allokation von Ressourcen“ auch im Bereich politischen Denkens bedeutet. So wie „pre crime“- Analytik, die Vorhersage von Verbrechen, die Kosten für die Polizei senkt, so senkt die Überwachungsmathematik im politischen Geschäft die Kosten für Ideen und für den Geist. So pathetisch die Frage klingen mag: Snowdens Bekenntnis, er wolle nicht in so einer Gesellschaft leben, macht seinen Fall zur wirklichen Chance für die Selbstvergewisserung der Gesellschaft – in den Worten des hier unverdächtigen Hans-Peter Uhl zum „Weckruf“. Die Dramatik wird nicht dadurch geringer, dass wir auch als Menschen dazu neigen, die Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren, allerdings mit weniger Daten und schlechterem Gedächtnis als die Überwachungssysteme. Zur demokratischen Substanz gehört, dass Medien und Öffentlichkeit Gegenwehr entwickeln. Auch hier ist der Fall Snowden in seiner Verengung auf Verrat oder Heldentum ein Menetekel. Dass innerhalb der „Debatte“ gemeldet wird, dass der amerikanische Staat eine Software zur Gesichtserkennung von Menschenmengen sehr weit entwickelt hat; oder dass Google erklärt, dass Googlemail-Nutzer nicht mit Privatsphäre rechnen können, hätte in der Vergangenheit einen Sturm der Entrüstung, zumindest Nachfragen ausgelöst. Und auch die Medien entwickeln sich zu kleinen Überwachungsmaschinen. David Ignatius, der CIA-Fachmann der „Washington Post“, wurde in der Fernsehsendung „Meet the Press“ gefragt, was er vom Verkauf an Jeff Bezos halte. „Wissen Sie“, sagte er, „wenn ich auf die Amazon-Seite gehe, wissen die eine Menge über mich. Sie wissen, was ich kaufen will. Es gibt keinen Grund, warum wir das nicht auch auf unserer Zeitungs-Website machen können.“ Wer über Snowden redet, muss über die Veränderung des Denkens reden. Es ist genau das, was Admiral Poindexter, der Architekt der Überwachungsapparatur für die NSA, vorausgesagt hat, als er von unserem „Manhattan-Projekt für das 21. Jahrhundert“ geredet hat. Größer kann man es nicht formulieren. Denn das Projekt, das zur Atombombe führte, hat das Denken und die Rationalität der Gesellschaft tiefgreifender verändert als die Bombe selbst, die im Kalten Krieg immer nur ein Symbol war. Damals gab es heftige, fruchtbare Debatten. Von den Großintellektuellen hat sich vernehmlich – und für ihn singulär – nur Hans Magnus Enzensberger zu Wort gemeldet. Aber was heißt heute „zu Wort gemeldet“? Die Schriftstellerin Juli Zeh, die das Thema früher und scharfsinniger als viele andere erkannte, hat auf „change.org“ eine Petition an die Bundeskanzlerin formuliert und mit ihrer Warnung vor dem Überwachungsstaat immerhin fünfzigtausend Unterschriften gesammelt. Vielleicht ist Warnung nötig, nicht nur vor dem Staat allein. „change.org“ ist eine kommerzielle Plattform, die ungezählte solcher Petitionen organisiert. Philip Mirowski hat unlängst das Kleingedruckte gelesen und festgestellt, dass „jeder, der die Seite benutzt, damit rechnen muss, dass seine persönlichen Informationen an die Personen oder Organisationen weitergeleitet werden, die die Petition organisieren; sie außerdem an dritte Parteien, an Behörden oder Kläger übermittelt und sogar unter bestimmten Umständen verkauft werden können.“
Posted on: Sat, 24 Aug 2013 19:34:28 +0000

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