SCHREIBNÄHKÄSTCHEN - ZUM THEMA ROMANFIGUREN Seit einige - TopicsExpress



          

SCHREIBNÄHKÄSTCHEN - ZUM THEMA ROMANFIGUREN Seit einige Schulen für kreatives Schreiben irgendwann die Idee aufgegriffen haben, empfehlen plötzlich alle Schreiblehrer ihren Schülern, für jede, aber auch jede ihrer Personen detaillierte, aber auch wirklich detaillierte Biografien zu verfassen. Sogar extra Fragebögen wurden dazu entwickelt: Was ist Johannas Lieblingsfarbe? Welches Kindheitserlebnis hat Peter nicht überwunden? Rauchte die Schwester von Elisabeths Urgroßmutter? Wenn ja, welche Marke? Was ist davon zu halten? 1. Natürlich ist es gut, wenn der Autor seine Figuren besser kennt als der Leser sie je kennen lernen wird. Ob man dazu ihre genauen Biografien braucht, ist allerdings fraglich. Um das Handeln eines älteren Mannes zu kapieren, muss ich nicht wissen, ob er als Siebenjähriger die Masern hatte. Aber genau nach solchen Dingen erkundigen sich die Fragebögen. 2. Ein durchschnittlicher Roman hat immer sechs bis acht Figuren, die nicht einfach nur unter die Rubrik Statisten fallen. Über die sollte man sich vorher auf jeden Fall Gedanken gemacht haben: Was wollen sie? Was ist ihr Ziel? Warum tauchen sie überhaupt auf? Was macht sie für den Leser interessant? – Sich zu jeder davon eine ganze Lebensgeschichte auszudenken, ist jedoch, wie ich finde, brotlose Kunst und endet allenfalls in einer Art wundersamer Papiervermehrung. Hurra, ich habe sieben tolle Bios – jetzt muss ich nur noch aufpassen, dass keine Scheiß-Story daraus wird. Das kann’s nicht sein. 3. Biografien verleiten dazu, alle möglichen Details in die Geschichten einzubauen, die gar niemand wissen muss. „Jetzt hab ich mir’s in mühsamer Kleinarbeit aufgeschrieben, jetzt will ich’s auch unterbringen.“ Daraus entstehen im schlimmsten Fall ellenlange Psychogramme der Figuren, die sich so spannend lesen wie das Gutachten einer Sozialpädagogin. 4. Fragebögen haben etwas furchtbar Mechanisches an sich – wie übrigens jede genormte Vorgehensweise bei einer kreativen Tätigkeit? Erst nehme man, dann klebe man an, dann straffe man, dann lasse man trocknen – so arbeiten Buchbinder, aber keine Buchschreiber. Wo alles nach dem gleichen Schema entsteht, ist nicht mehr viel Platz für Überraschendes. Und für Überraschungen sorgen sollte der Autor im Gegensatz zum Buchbinder durchaus. 5. Ob Stephen King Biografien seiner Figuren schreibt? Ob Hemingway es tat? Oder John Updike? – Ich bezweifle es. Es gibt nichts Wertvolleres als seine eigene Methode zu finden. Ich zum Beispiel arbeite nach einer Art Kristallisationsverfahren: Die Figur entsteht im Laufe der Handlung, und wenn ich fertig bin, schreibe ich die Geschichte noch mal neu – diesmal mit den ausgereiften Versionen meiner Figuren. Auf diese Weise ist organisch gewachsen, was bei der Fragebogen-Methode nur konstruiert worden wäre. 6. Im Übrigen lernt man im Laufe eines Lebens unzählige Personen kennen, die sich als Erstbausteine für Romanfiguren eignen. Um sie zu verfeinern, dazu ist man Autor. Und gute Literatur – das ist zur Abwechslung mal ein Leitsatz von mir – entsteht nicht drinnen und wird hinausgetragen; sie entsteht draußen und wird hereingebracht.
Posted on: Sun, 01 Dec 2013 21:44:18 +0000

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